Peter Kurzeck: "Bis er kommt"

Chronist der Nebensächlichkeiten

Peter Kurzeck (1943-2013) in einer Aufnahme von 2000
Peter Kurzeck ließ kein Detail seines Alltags in seinen Aufzeichnungen aus. © dpa / picture alliance / Arne Dedert
Von Jörg Magenau |
Mit "Bis er kommt" erscheint posthum das sechste Buch seiner autobiografischen Chronik "Das alte Jahrhundert" - die kein noch so kleines Detail des Alltags auslässt. Der 2013 im November verstorbene Schriftsteller Peter Kurzeck hatte das Romanfragment hinterlassen.
Peter Kurzeck hat geschrieben und geschrieben. Immer und überall. Seine Devise: Erzählen, und bloß nichts vergessen! Er hat Notizen gemacht, wo er ging und stand und auf alles, was irgendwie beschreibbar war: Kassenzettel, Landkarten, Teebeutelhüllen. Er hat sich verzettelt, wie das vor ihm nur Arno Schmidt gelungen ist – aber Schmidt war geordnet, systematisch und bürokratisch. Bei Kurzeck ging es anarchisch zu, und er hatte schon mehr als genug damit zu tun, die Notizen des Tages dann am Abend ins Reine zu schreiben.
Erinnern an das Erinnern selbst
Davon unter anderem handelt das nachgelassene Romanfragment "Bis er kommt", gedacht als Teil sechs der großen autobiografischen Chronik "Das alte Jahrhundert", in dem er sich von Buch zu Buch tiefer in das Jahr 1983 hineinerzählte, ohne je damit fertig werden oder gar darüber hinausgelangen zu können. Einige der Notizzettel sind im Anhang abgebildet, man kann sich aus dem dort versammelten Material einen eigenen Kurzeck-Roman zusammenbauen. Nur sein Tod im November 2013 – da war er siebzig Jahre alt – konnte diese Arbeit beenden, weil der Versuch, der verlorenen Zeit hinterherzuschreiben, naturgemäß unabschließbar ist. Denn in jedem erinnerten Augenblick stecken unendlich viele weitere Erinnerungen an andere Momente mit den zugehörigen Gedanken und Assoziationen, und auch das Erinnern selbst muss erinnert werden und so weiter – was dazu führt, dass keine einzige Millisekunde je zu Ende erzählt werden könnte.
So schreibt Kurzeck auch mit diesem Romanfragment an seiner Privatchronik des Oktober 1983 im Frankfurter Westend weiter, als er mit Freundin Sibylle und Töchterchen Carina eine Phase des Familienglücks erlebte. Wie schon so oft, bringt er Carina zur Krippe und holt sie dort wieder ab, es geht um abendliches Vorlesen, Kastaniensammeln, sehr viel Kaffeetrinken und Rauchen, um die Penner an der Straßenecke, vor allem aber um das Verstreichen der Zeit. Und währenddessen – Geld hatte er keins – entstand sein dritter Roman "Kein Frühling", der von der Nachkriegskindheit im oberhessischen Staufenberg handelt. Als eine Ebene des Schreibens im Schreiben ist diese dörfliche Vergangenheitsschicht in der "damaligen Gegenwart" enthalten. Auch Freund Jürgen, der in Südfrankreich lebt, ist Kurzeck-Lesern lange bekannt. Jetzt allerdings kommt ihm eine Hauptrolle zu, weil er von seiner Freundin verlassen worden ist und deshalb alle zwei Stunden anruft, um mitzuteilen, dass sie immer noch nicht zurückgekommen ist.
Poetische Kraft und Daseinsfreude
Klingt schrecklich? Ja. Nichts Neues? Nein. Und doch sind Kurzecks Bücher in der Maßlosigkeit des Alles-Bewahren-Wollens von ungeheurer Kraft und Poesie und Daseinsfreude. Keiner kann das Leben in seiner Vielfalt, in seiner Kleinheit, in seiner Schönheit so feiern wie Kurzeck. Und wenn derzeit die Alltagsmitschriften von Karl Ove Knausgard als große Literatur gehandelt werden, dann müsste Kurzeck erst Recht als Vertreter einer literarischen Lebensintensivierung und Nebensächlichkeitsveredelung gefeiert werden. Er hat dafür auch eine eigene, musikalische, geradezu singbare Sprache gefunden. Sein Stilmittel ist die Wiederholung. Die in Endlosigkeitsschleifen verwandelten Tage und die gebetesmühlenhaft repetierten Worte sind sein persönlicher Widerstand gegen die Vergänglichkeit. Das sieht nach wenig aus, ist aber eine durchaus heroische Leistung. Denn so, erinnernd, schreibend, wiederholend, entreißt er das alltägliche Leben der Belanglosigkeit.

Peter Kurzeck: Bis er kommt - Das alte Jahrhundert
Romanfragment
Aus dem Nachlass herausgegeben von Rudi Deuble und Alexander Losse
Verlag Stroemfeld, Frankfurt/Main 2015
380 Seiten, 24,80 Euro

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