Péter Nádas: „Schauergeschichten“
Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer
Rowohlt Verlag, Hamburg 2022
576 Seiten, 30 Euro
Am 21.Oktober 2022 stellt Péter Nádas den Roman in Frankfurt vor, um 19 Uhr in der Villa Metzler.
Nádas' "Schauergeschichten"
Der ungarische Schriftsteller Peter Nádas. Der 80-Jährige hält sein neues Buch "Schauergeschichten" für sein persönlichstes. © picture alliance / dpa / Carsten Koall
Wir sind böser, als wir meinen
05:25 Minuten
Péter Nádas ist bekannt für seine Stadtromane, sein neues Werk "Schauergeschichten" spielt nun in einem Dorf im Jahr 1967. Die Bauern da machen einander das Leben schwer, Hass sei überall, sagt Nádas. Ein verstörendes und zugleich grandioses Buch.
Seit 54 Jahren lebt Péter Nádas auf dem Land. Und doch, sagt er, sei und bleibe er ein Städter, ein Budapester. Aber natürlich hat den ungarischen Autor, der seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis gehandelt wird, das Dorfleben geprägt.
Nach seinen vor allem in der Stadt spielenden Romanen „Buch der Erinnerung“ und „Parallelgeschichten“ hat er nun den Dorfroman „Schauergeschichten“ geschrieben. Der Autor selbst hält es für sein persönlichstes Buch.
Es wird wüst geflucht und geschimpft in dem neuem Roman. Unvorstellbar, denkt man, dass selbst dieser feinfühlige, ausgesprochen höfliche, ungarische Autor manchmal flucht. „Doch", widerspricht Péter Nádas. "Wenn ich mit dem Hammer zufällig auf meinen Finger schlage, dann sage ich etwas, unbeabsichtigt. Das enthält mein Gehirn. Ab und zu fluche ich natürlich.“
Missgunst im Dorf
Sommer 1967 im kommunistischen Ungarn: In einem archaisch anmutenden Dorf an der Donau unweit von Budapest herrscht Verbitterung und Missgunst. Die Bauern im Roman „Schauergeschichten“ gönnen einander nicht mal eine gute Ernte.
Eine vermeintlich zivilisierte Frau kritisiert wiederholt einen Apfelstrudel, um die Gastgeberin zu verletzen.
Der Hass bestimmt das Denken, Reden und Handeln.
Überall Hass
„Hass ist jetzt überall, in einer Menge, die wir nicht einmal begreifen", stellt Nádas fest. "Und ich habe dieses Loslassen des Hasses als ein Charakteristikum der Zeit aufgegriffen. Dieser menschliche Hass ist eine Eigenschaft, von der wir nicht loslassen können.“
Manchmal verschütten verbale Gehässigkeiten ein eigentlich gutes Herz. Etwa das der alten Teres, einer verarmten Landadligen, die wegen einer Schwangerschaft verstoßen wurde.
Teres liegt die geistig behinderte Tagelöhnerin Rosa am Herzen, obwohl sie sie beim Unkraut-Jäten in den Weinbergen fluchend vor den Kopf stößt.
Tote aus ihrer Vergangenheit verfolgen Teres. Auch deshalb der Titel „Schauergeschichten“.
Tote kehren zurück
„Tote erscheinen wieder. In meiner Pubertät, als ich meine Mutter verloren habe, habe ich noch Jahre damit verbracht", erinnert sich Nádas.
"Ich musste regelrecht kämpfen dafür, meine Mutter nicht in fremden Personen plötzlich zu erkennen: In wildfremden Frauen, die meiner Mutter gar nicht ähnlich sind, erkannte ich sie und rannte auf der Straße fremden Frauen hinterher.“
Péter Nádas lässt seinen namenlosen Erzähler oft mit dem Wir des Dorfes verschmelzen. Der Bewusstseinsstrom samt Stimmenchor macht es dem Leser nicht leicht und zieht ihn dann doch in den Bann.
Ein theoretisches Gegengewicht zu den irrationalen Dorfbewohnern bilden die aufgeklärten Figuren: der Lehrer und der protestantische Pfarrer, die junge Piroschka, die einen abnormen, hünenhaften Mann im Dorf studiert, und der hochintelligente Mischike, der schwerbehindert im Rollstuhl sitzt.
Aber sie alle dringen mit ihrer Sprache nicht zu den abergläubischen Dorfbewohnern vor.
"Natürlich wählen sie Orbán"
Fragt sich, ob die Dorbewohner Orbán wählen würden. „Natürlich wählen sie Orbán", sagt Nádas.
Orbán sei nicht aus Zufall Ministerpräsident. "Zum ersten Mal in der ungarischen Geschichte, die ganz stark beeinflusst war von einem ständigen Krieg zwischen Hauptstadt und Land, zum ersten Mal hat das Land gesiegt. Aber die Sieger selbst sind Verlierer, die absoluten Verlierer.“
Die Geschichte ohne Kapiteleinteilungen strömt unaufhaltsam Richtung Unheil und mündet in ein fulminantes Finale an der Donau.
Der schwerbehinderte Mischike empfindet in der Nähe der attraktiven Piroschka beim Baden Erregung: "Beglückt und matt vor Erschöpfung rief Mischike mit seiner sich ständig festreibenden und wieder frei werdenden kehligen Stimme, die außer ihr und seiner Mutter kaum jemand verstand, sie solle nur fahren, sie sollten ruhig aufbrechen, er sei nicht durstig und nicht hungrig, [...] er denke an etwas ganz anderes, und da küsste ihn Piroschka ganz einfach auf den Mund", heißt es im Buch.
Ein grandioser Roman
Der Nádas-Leser ahnt, dass auf diesen Glücksmoment ein Drama folgt. Es wird schaurig, auch wegen unterlassener Hilfeleistung.
„Schauergeschichten“ ist ein verstörender-düsterer, ein grandioser Roman, der uns auf uns selbst zurückwirft, auf Populismus, Krieg und Klimakrise, auf das, was sich da gerade zusammenbraut. Es ist zum Verzweifeln.
„Warum sollte man verzweifeln? Nein", widerspricht Péter Nádas. Noch überwiege das Gute in der Welt. Aber ja, das Böse greife um sich. Und wir Menschen, ist sich der Autor sicher, sind viel böser, als wir meinen. „Also höchste Zeit, zu einer neuen anthropologischen Vermessung zu kommen.“