Péter Nádas: "Leni weint"

Ungewöhnlich politisch

Buchcover: "Péter Nádas: "Leni weint"
Buchcover: "Péter Nádas: "Leni weint" © rowohlt / imago / imagebroker
Von Jörg Plath |
"Parallelgeschichten", "Aufleuchtende Details" und nun "Leni weint": Nádas' neues Werk versammelt seine wichtigsten Essays aus den Jahren 1989 und 2014. Der ungarische Schriftsteller reflektiert darin vor allem die politische Situation in Osteuropa.
Mit gut 500 Seiten fällt das neue Werk von Péter Nádas vergleichsweise schmalbrüstig aus. Nach den umfangreichen Romanen "Parallelgeschichten" und "Aufleuchtende Details" legt er nun 30 Essays aus den Jahren 1989 bis 2014 vor. "Leni weint" ist ein klug komponiertes Buch, das einen ungewöhnlich politischen Autor zeigt und ohne den Aufstieg des Rechtspopulisten Viktor Órban undenkbar wäre.
Denn Nádas beschäftigt sich fast ausschließlich mit der Demokratie in Europa - nie vordergründig politisch, sondern ethnologisch, soziologisch, mythologisch, anthropologisch, außerdem persönlich und erzählend, was bei ihm fast eine Tautologie ist. "Leni weint" beginnt mit der Darstellung des eigenen Dorfes. Der Zugezogene beschreibt in "Behutsame Ortsbestimmung", wie die Dorfbewohner kollektiv handeln, denken und Bescheid wissen, wie sie miteinander sprechen (gleichzeitig und laut), Verbrechen sanktionieren (drakonisch, gemeinsam und unter sich), wie familiäre und nachbarschaftliche Loyalitäten und Abmachungen Gesetze und Verträge ersetzen.

Nádas betrachtet Monets "Seerosen" wie einen seiner Romane

In der magisch-mythischen Welt regiert die "Findigkeit": Um des Überlebens willen betrügen die Beherrschten die Betriebe der sozialistischen Mangelwirtschaft. Institutionen und Prinzipien, Recht und Besitz gelten nichts. Mit dieser immer noch lebendigen Regressionsmentalität, der Nádas in vielen weiteren Essays nachspürt, könne die über die Menschen gekommene Demokratie nur scheitern. Leser der Romane von Nádas dürften Ausführungen zu Fotografie und Wahrnehmung vermissen, können sich aber trösten mit "Der Mensch als Schöpfer und Überlebender". Nádas betrachtet Claude Monets Gemälde "Seerosen", als wäre es einer seiner Romane. Auch die Miniaturen "Spurensicherung" über beängstigende Begegnungen mit der ungarischen Stasi fehlen, dafür führt Nádas ins Zentrum des Bösen, indem er seine Faszination beim Betrachten des Filmes über die Hinrichtung von Nicolae und Elena Ceausescu gesteht ("Großes weihnachtliches Morden").
Und schließlich zerfallen manche Essays auf ungewöhnliche Weise in zwei Teile: Nádas bricht im Auto nach Ceausescus Rumänien auf, reflektiert jedoch nach anderthalb Seiten ohne jeden Bezug zu seinen Reisegefährten über die Diktatur. Der Erzähler folgt wie im Roman seinen - nicht beliebigen - Assoziationen. Mit "Der eigene Tod" schließt der Band. Nádas, der mit knapper Not einen Herzinfarkt überlebt hat, saugt in seiner Wohnung Staub und nimmt kaum mehr als die Riffelungen des Staubsaugerschlauchs wahr. Sie erinnern an den Geburtskanal, in dem Nádas Tage zuvor dem Tod entgegen zu rutschen meinte. So schließt sich der Kreis.
Mit der magisch-mythischen Welt des Dorfes hebt "Leini weint" an, um dann dem Chaos in Alltag und Wirtschaft, Politik und Kunst eine Ordnung existenzieller Dringlichkeit mit Hilfe der "Körperwärme der Schriftlichkeit" entgegenzustellen - ein Vorgang, in den Péter Nádas beglückenderweise den Leser nicht nur seiner Romane einführt. Dieses Mal unter Mitwirkung eines bebenden Staubsaugerschlauches.

Péter Nádas: Leni weint
Essays
Aus dem Ungarischen von Akos Doma, Heinrich Eisterer u.a.
Rowohlt 2018
528 Seiten, 36 Euro

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