Peter Pfrunder (Hg.): "Pia Zanetti. Fotografin"
Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich, 2021
196 Seiten, 48 Euro
Die Welt durch die Kamera betrachten
06:04 Minuten
Die 1943 in Basel geborene Pia Zanetti bereiste die halbe Welt. In einem eindrucksvollen Künstlerbuch zieht die Grande Dame des Schweizer Fotojournalismus Bilanz ihres jahrzehntelangen Schaffens.
Die zwei Herren im mittleren Alter scheinen sich prächtig zu amüsieren. Nebeneinandersitzend blicken sie vergnügt in ein Buch, während der eine mit ausgestrecktem Zeigefinger auf eine Stelle im Text deutet. Dann blättert der andere, schließlich haben sie beide gemeinsam die Finger im Buch. Man wüsste gerne, ob sie mit oder über den Autor lachen, immerhin blickt zu guter Letzt einer von ihnen wie ertappt auf.
Ein gutes Gespür für den richtigen Moment
Tatsächlich hatten weder Max Frisch noch Friedrich Dürrenmatt bemerkt, dass sie bei der gemeinsamen Lektüre abgelichtet wurden. Dabei hatte die Fotografin gleich mehrmals auf den Auslöser gedrückt und die Szene in einer ganzen Bilderserie festgehalten.
Dieses Kunststück ist Pia Zanetti 1968 am Rande einer Tagung der Gruppe 47 gelungen. Es bezeugt nicht nur den besonderen Moment zwischen den beiden Schriftstellern und lebenslangen Konkurrenten, sondern auch Auge und Gespür der großen Schweizer Fotografin. In einem eindrucksvollen Bildband zieht die 1943 in Basel geborene Zanetti nun die Bilanz ihres Schaffens.
Mehr als 350 Fotografien
Ihr Künstlerbuch versammelt mehr als 350 Fotografien in Farbe und Schwarz-Weiß, die anlässlich großer Reportagen für verschiedene Magazine entstanden sind. Seit den 1960er-Jahren reiste die Fotojournalistin - gemeinsam mit ihrem Mann Gerardo Zanetti, der den Text beisteuerte - jahrzehntelang quer durch Europa, Asien und Amerika; immer wieder auch an Brennpunkte.
Die einfühlsame Chronistin fotografierte beispielsweise kurz vor dem Militärputsch 1967 in den Straßen Athens. Sie porträtierte mit dem nahe Neapel gelegenen Albanova 1965 das Dorf mit der höchsten Mordrate Europas und zeigte 1968 die Auswirkungen des Apartheidsregimes in Südafrika.
Auch Prominente lichtete sie gern ab. Großartig sind etwa ihre Porträts von Bette Davies (1988) oder Vivianne Westwood (1992). Tatsächlich sind es vor allem die Menschen und ihre Lebensbedingungen, die die Fotoreporterin faszinierten.
Kontext fehlt zunächst
Überraschenderweise verzichtet Zanetti in diesem Künstlerbuch zunächst auf die Einordnung der Fotografien. Zwar ist der komplette Bildteil grob chronologisch sortiert und mit Hinweisen auf Ort und Jahreszahl versehen, der Kontext hingegen fehlt.
So stehen die spielenden Kinder aus Albanova neben anderen Straßenszenen, Flaneure in London erscheinen gemeinsam mit Straßenbahn Fahrenden in Warschau und wallonische Minenarbeiter werden neben Tanzenden in Brüssel präsentiert. Erst am Ende des Buches werden die Begleitumstände erläutert und ausgewählte Reportagen faksimiliert abgebildet.
Es geht um die Condition humaine
Das ist gewagt, geht aber auf. Denn es ermöglicht den freien Blick auf das alle Bilder verbindende Thema: die Condition humaine.
Eine in die Tiefe gehende Würdigung erfährt die 77-jährige Zanetti durch die Begleittexte der Fotografieexperten Peter Pfrunder und Nadine Olonetzky. Sie führen ein in Leben und Werk.
Am Ende erfahren die Leserinnen und Leser auch, welche Lektüre Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt so amüsiert hatte: Es waren die Mundartgedichte Ernst Eggimanns. Wie schön.