Peter Schneider "Follow the Science?"

Wissenschaft ist nicht gleich Wahrheit

05:42 Minuten
Das schlicht weiß-blau gestaltete Cover des Buchs "Follow the science?"
Schneider warnt, verschwörungstheoretische Thesen damit zu kontern, dass „die“ Wissenschaft Fakten bereitstelle, die den Weg vorgäben. © Edition Tiamat / Deutschlandradio
Von Bodo Morshäuser · 24.10.2020
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Wissenschaft sei nur im Plural denkbar, mahnt der Psychoanalytiker Peter Schneider. "Die" Wissenschaft gebe es nicht, auch nicht im Argument gegen Verschwörungstheorien. Das bedeute aber nicht, dass man sie als bloße Meinungsäußerung abtun könne.
Den Schweizer Psychoanalytiker Peter Schneider nervt das Gerede von "der" Wissenschaft, die im Gegensatz zu Meinungen eindeutige Fakten liefere, etwa um Verschwörungstheoretiker zu widerlegen. Es gebe "die" Wissenschaft gar nicht, auch "die" wissenschaftliche Methode gebe es nicht, Wissenschaft sei nur divers denkbar. Sein "Follow the science?" ist eine Aktualisierung der Definition von "Wissenschaft".

Sympathisch selbstkritische Sätze

Der Autor warnt vor dem Reflex, verschwörungstheoretische Thesen mit Sätzen zu kontern wie: "Die" Wissenschaft würde Fakten bereitstellen, die den Weg vorgäben. Das hält er für höchst unwissenschaftlich. Wissenschaft habe keinen Wahrheitsanspruch. Sie sei kein Gegensatz zu Verschwörungstheorien, die behaupten, die Wahrheit zu kennen.
Aber er schreibt auch sympathisch selbstkritische Sätze wie diesen: "Die Unvereinbarkeit von Verschwörungstheorien und wissenschaftlichem Denken als Wahrheitssuche ist selber mehr wishful thinking als Realität." Noch jede Verschwörungstheorie arbeite mit eigenwillig zusammengesetzten Teilen wissenschaftlichen Wissens. Es gebe auch Wissenschaftler, die den Ruf des gesamten Berufsstands gefährdeten.
Schneider hält deshalb nichts davon, den Begriff der Verschwörungstheorie durch Verschwörungsmythos oder Verschwörungserzählung zu ersetzen. Verschwörungstheorien sind für ihn theoretischer als praktische wissenschaftliche Arbeit, die auf Versuchen und Experimenten beruht.

Expertise zur bloßen Meinungsäußerung degradiert

Den Beginn der neueren Wissenschaftsfeindlichkeit datiert er auf die 80er-Jahre, den Ursprungsort sieht er in den USA. Seit Ronald Reagan haben noch alle republikanischen US-Präsidenten, zuletzt Donald Trump, staatliche Gelder für den Wissenschaftsbetrieb zusammengestrichen, um politische Entscheidungsprozesse von unerwünschten Expertisen freizuhalten. Seitdem werde, wenn es beliebt, wissenschaftliche Expertise zur bloßen Meinungsäußerung degradiert und das Wissen vom Klimawandel als "umstrittene These" dargestellt. In das populistische Pro-und-Kontra-Spiel seien leider auch Wissenschaften verstrickt, ruft der Autor offenbar in die eigenen Reihen hinein.
Um die Spannungen zwischen Wissenschaft und Wissenschaftsleugnung und die Drangsal durch politische Interessen zu verdeutlichen, zitiert der Autor das Bild einer dreispurigen Autobahn. Rechts und links sind die Wissenschaften unterwegs, in der mittleren Spur fährt die Politik. Sie wechselt mal nach rechts in die langsame Spur, wo sie Geld für Grundlagenforschung bereitstellt, dann wechselt sie zur Wissenschaft auf der Überholspur und will als Gegenleistung deren Expertise für aktuelle politische Entscheidungen abholen.

Ein warnender Gruß an die Politik

Für große Risikothemen dieser Zeit, etwa die Sicherheit von Atomkraftwerken, die Klimakatastrophe und die derzeitige weltweite Pandemie, verfügten Wissenschaften jedoch nicht über genügend Daten, um verlässliche Vorgaben zu formulieren, stellt Schneider klar. Für solche seltenen bis einmaligen Großrisiken gebe es kaum Erfahrungen und keine zu Ende gerechneten Modelle.
Die Politik erhalte nicht den erwarteten Gegenwert für ihre Finanzierung der Grundlagenforschung. Ihr Interesse an der Finanzierung von Wissenschaften lasse nach – in einer Zeit, da Wissenschaftsleugner entschieden wie nie auftreten. So erweist sich das Buch am Ende noch als warnender Gruß in Richtung aktueller Politik, die unter dem Beschuss berechtigter wie auch irrlichternder Interessen ihren Weg aus den Augen zu verlieren scheint.

Schneider, Peter: "Follow the science? Ein Plädoyer gegen wissenschaftsphilosophische Verdummung und für wissenschaftliche Artenvielfalt"
Edition Tiamat, Critica Diabolis 284, Berlin 2020
112 Seiten, 16 Euro

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