Peter Sloterdijk über Freiheit

„Wir haben die Kosten der Freiheitskämpfe vergessen“

54:10 Minuten
Sloterdijk im Roten Salon der Volksbühne.
Im ersten von drei Gesprächen über die Grundwerte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit warnt der Philosoph Peter Sloterdijk vor Entpolitisierung. © Anke Beims
Moderation: Armen Avanessian und Simone Miller |
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Losgelöst treibend auf einem See, den Blick ins Himmelblau gerichtet: Ist das Freiheit? Oder müssen wir sie gemeinsam mit anderen politisch erstreiten? Der Philosoph Peter Sloterdijk deutet einen Leitbegriff der Moderne. Teil eins unserer Reihe.
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – seit der Französischen Revolution haben Menschen im Namen dieser Werte um Autonomie, politische Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit gekämpft. Was bedeuten diese Leitmotive der Moderne für uns heute? Wer kommt in den Genuss eines Lebens, das von diesen Idealen geprägt ist, und wer zahlt den Preis dafür? Das diskutieren wir in drei Gesprächen mit Peter Sloterdijk, die Deutschlandfunk Kultur und die Berliner Volksbühne gemeinsam veranstaltet haben.
"Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten." Das schrieb der Schweizer Philosoph Jean-Jacques Rousseau 1762 in seinem "Gesellschaftsvertrag", einer Abhandlung, die die Französische Revolution zu ihren programmatischen Texten zählte. Aber in späteren Schriften träumte er von einer Freiheit, die darin bestand, alle gesellschaftlichen Bande hinter sich zu lassen. In seinen "Träumereien eines einsam Schweifenden" beschreibt er, wie er in einem Boot auf den Bieler See hinaus treibt, die Augen in den Himmel gerichtet, alles um sich her und schließlich auch sich selbst vergessend. Der späte Rousseau, sagt Peter Sloterdijk, war jemand, "der von der Zwangsvergesellschaftung schlechthin genug hat".

Privates Glück oder politisches Ideal?

Und was verstehen wir heute unter Freiheit? Die freie Wahl der Lebensstile, den unverstellten Zugang zu privatem Glück? Oder ein politisches Ideal, für das es sich nach wie vor zu kämpfen lohnt? "Wir haben heute das Problem einer gewissen Freiheitsverwöhnung", meint Peter Sloterdijk: "Wir haben die Erinnerung an die Kosten der Freiheitskämpfe weitgehend verloren." Der Wille zur Freiheit werde in westlichen Gesellschaften mehr und mehr "von der Nötigung zur Freiheit überlagert".
Sloterdijk: "Die Verlegenheit ist heute doch mehr, dass die Menschen sich auf halbem Weg losgelassen fühlen. Wir verlassen unsere Schulen, von den Mutterleibern gar nicht zu sprechen, unsere Familien, unsere Herkunftsorte im Zustand von biografischen Halbfabrikaten, an denen schon ein paar Leute gearbeitet haben, und dann geht der Lehrer in Pension, und die Eltern sterben weg, und du stehst auf offener Strecke allein auf dem Gleis."

"Wir sind frei, weil wir unfertig sind"

Sloterdijk sieht in dieser "Freiheitsverlegenheit" einen charakteristischen Zug unserer Zeit. Schon der französische Existenzialismus habe erkannt: "Weil wir existenziell unfertig sind, sind wir frei." Und wie wäre mit dieser prekären Freiheit am besten umzugehen? Sloterdijk antwortet mit Friedrich Nietzsche: "Ich nahm mich selbst in die Hand." Dieser Selbstbezug dürfe jedoch nicht zu völliger Entpolitisierung führen.
Sloterdijk: "Ich glaube, das ist heute die größte Gefahr: dass man die Freiheit dazu benutzt, sie zu vernachlässigen."

Rechter Populismus im Namen der Freiheit

Als Verteidiger der Freiheit treten heute auch rechte Populisten und Parteien auf. Peter Sloterdijk beobachtet seit den 1970er-Jahren, "dass rechte Bewegungen mit besonderem Nachdruck Freiheitsmotive in ihr Programm schreiben". Wäre also auch die AfD eine "freiheitsliebende Partei"? Peter Sloterdijk hält es in dieser Frage mit Jesus Christus:
"Geschriebene Programme haben offenbar die Fähigkeit, fast identisch von Demokraten und Despoten benutzt zu werden. Und ich habe mich bisher einfach an die jesuanische Grundregel gehalten: ‚An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen‘. Ich habe mir die Früchte angesehen, die vom Baum der Alternative heruntergefallen sind, und ich fand sie überwiegend faul, will sagen: nicht zum Verzehr geeignet."

Teil zwei und drei der Gesprächsreihe mit Peter Sloterdijk zu den Begriffen "Gleichheit" und "Brüderlichkeit" hören Sie bei "Sein und Streit" am 18. und 25. November oder auf dieser Seite online.

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