„All das gehört zu dieser großen Grautendenz, die in unsere eigene Zeit hineinreicht. Wir haben das Sowjetgrau ins 21. Jahrhundert mit hinübergeschleppt. Wenn Rot im Spiel ist, dann eigentlich nur noch im Sinne des blutigen Massakers. Aber nicht mehr im Sinne einer Symbolfarbe, die einen Fortschritt für die Menschheit kodieren sollte.“
Peter Sloterdijk zum 75. Geburtstag
In Peter Sloterdijks jüngstem Buch "Wer noch kein Grau gedacht hat" geht es um die Bedeutung dieser Farbe unter anderem in Philosophie, Literatur und Politik. © picture alliance / dpa / Georg Wendt
„Es braucht eine neue Ethik für das Zusammenleben mit der Erde“
39:20 Minuten
Peter Sloterdijk ist einer der letzten deutschen Großintellektuellen. Anlässlich seines 75. spricht er über die großen Themen unserer Gegenwart: die Ukraine, die Klimakrise, und über die Farbe Grau.
Zehntausende Seiten Text hat er verfasst, einige seiner Werke gehören zu den meistverkauften Philosophie-Büchern des 20. Jahrhunderts und es gibt kaum eine Debatte der letzten Jahrzehnte, an der er sich nicht beteiligt hat: Von Gentechnik und Steuersystemen bis Corona und Klimawandel. Peter Sloterdijk ist zweifelsohne einer der wichtigsten Intellektuellen dieses Landes. Nun feiert der Philosoph seinen 75. Geburtstag – und ist so arbeitswütig wie eh und je.
In seinem jüngsten Buch "Wer noch kein Grau gedacht hat" erkundet Sloterdijk die Bedeutung der Farbe Grau – unter anderem als Gegenstand der Philosophie, der Literatur und der politischen Farbenlehre.
Von Rot zu Grau
Grau ist für Sloterdijk unter anderem das Erbe der Sowjetunion – als Ergebnis einer „Rot-Grau-Verschiebung“ vom Hoffen auf den „Menschheitsmorgen“ zu Diktatur und Staatsterror. In Putins Politik imperialer Ausdehnung sieht er nun das „nationalrussische“ Nachspiel dieses Niedergangs:
Den Zusammenbruch der Sowjetunion müssten wir auch in seiner „postkolonialen Bedeutung“ begreifen, so Sloterdijk: „Was wir erleben, ist ein Unabhängigkeitskrieg.“ Die Phase der Nationenbildung, die wir in Europa längst für abgeschlossen hielten, sei offenbar noch nicht vorbei.
„Kulturelle Homogenität fördert Bürgerkriege“
Sloterdijk mahnt in diesem Zusammenhang dazu, eine republikanische Identität „jenseits der ethnischen Selbstdefinition“ zu entwickeln und verweist beispielhaft auf die Schweizer Eidgenossenschaft:
„Ich glaube, dass alle republikanischen Gebilde es heute lernen müssen, solche Einschwörungen zu machen, die jenseits der ethnischen Homogenität das Gelöbnis zur gemeinsamen Anstrengung des Zusammenlebens beinhalten, über kulturelle Differenzen hinweg. Denn mit der kulturellen Homogenität fördert man heute Bürgerkriege.“
Epochenschwelle zum Klima-Kodex
Die andere bestimmende Farbe unserer Gegenwart ist womöglich das Grün der Klimabewegung. Taugt die Besinnung auf das Klima, die Atmosphäre, als „Religion nach den Religionen“, wie es Sloterdijk einmal angedeutet hat? Jedenfalls nicht von heute auf morgen, schließlich habe etwa das Christentum um die 1000 Jahre gebraucht, um eine „kulturbestimmende Energie“ zu werden: „Wenn eine neue religiöse Ethik entsteht, sind die Menschen, die sie befolgen können, noch nicht da.“
Dennoch bekräftigt Sloterdijk die metaphysische Dimension der Klimakrise: „Ich glaube, dass wir an einer epochalen Schwelle stehen, wo sich ein neuer ethisch-religiöser Kodex für 1000 Jahre Kohabitation mit der Erde ausformulieren muss.“
Braucht es eine „Grüne Internationale“?
Das Diktum Herders, wir Menschen seien „Zöglinge der Luft“, könnten wir erst vor diesem Hintergrund wirklich akzeptieren: „Wir bekommen ein anderes Gefühl für das, was fundamental ist.“ Statt dem Boden und der Schwerkraft müssten wir nun „die antigraven Energien stärker berücksichtigen“ und die „Luftabhängigkeit allen Lebens“.
Gegenüber radikalem Klimaaktivismus bleibt der Philosoph allerdings skeptisch, zumal solange der sich auf „ein paar grüne Speerspitzen“ beschränkt: „Es gibt noch keine wirklich effiziente 'Grüne Internationale'. Wenn wir eine echte Governance-Institution schaffen könnten, die weltweite Ausgleichsbewegungen durchführt, dann wäre auch jeder lokale Radikalismus im Sinne des Gesamtunternehmens sinnvoll. Aber er wird nur noch selbstschädigend, wenn er isoliert bleibt.“
(ch)
Peter Sloterdijk: „Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre“
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022
286 Seiten, 28 Euro