Peter Stamm: "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt"

Wer sind wir eigentlich wirklich?

Nicht zufällig beginnt Peter Stamms Roman mit einem gemeinsamen Spaziergang über den Friedhof. In "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt" geht es um die großen Fragen des Lebens.
Nicht zufällig beginnt Peter Stamms Roman mit einem gemeinsamen Spaziergang über den Friedhof. In "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt" geht es um die großen Fragen des Lebens. © S. Fischer; imago/Michael Schick
Von Jörg Magenau |
Peter Stamm legt mit "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt" einen novellenhaften Roman vor, in dem er wie in seinem Debütroman "Agnes" ein aufregendes Verwirrspiel um die Identitäten der Figuren betreibt. Sensibel und sanft melancholisch im Ton umkreist er die großen Sinnfragen.
Am Anfang bekommt der Ich-Erzähler als alter Mann nächtlichen Besuch von seiner einstigen Geliebten. Er folgt ihr hinaus in den Winter, zurück in das Dorf seiner Kindheit. Am Ende, da steht er in der Mitte seines Lebens, erinnert er sich an ein Ereignis aus seiner Jugend. Im Dorf der Eltern fand er einen alten Mann, der auf eisglattem Weg gestürzt war. Er half ihm auf und brachte den Alten zurück ins Männerwohnheimheim. Das Ende der Geschichte mündet möbiusbandhaft in den Anfang, ja mehr noch: Anfang und Ende fallen so sehr zusammen, dass der junge und der alte Mann derselbe sind. Ohne zu wissen wie ihm geschah, war dem jungen so, "als verbinde uns etwas, was viel tiefer reicht als Worte, als würden wir eins, ein vierbeiniges Wesen, zugleich alt und jung, am Anfang und am Ende."
Peter Stamm hat in dem schmalen, novellenhaften Roman "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt" ein vertracktes Spiegelkabinett konstruiert. Der Erzähler Christian, etwa 50 Jahre alt, begegnet in Stockholm der 20 Jahre jüngeren Lena, und erzählt ihr seine Geschichte. Vor 15 Jahren schrieb er sein erstes und einziges Buch, das von seiner damaligen Liebe zu der Schauspielerin Magdalena handelte. Sie gab ihm die Idee dazu ein, doch die erzählte Geschichte unterschied sich bald von der realen, und die wirkliche Magdalena kam ihm während des Schreibens abhanden.
Leser von Peter Stamm wissen, dass genau dies das Setting seines Debütromans "Agnes" aus dem Jahr 1998 gewesen ist. Doch jetzt treibt er das Spiel weiter: Christoph begegnet einem jungen Mann, in dem er sich selbst oder sein einstiges Ich erkennt. Dieses junge Alter Ego, das Chris genannt wird, scheint Christophs Leben zu wiederholen und ihm damit zu rauben. Lena, der er diese Geschichte erzählt, ist dessen Freundin und das genaue Ebenbild seiner Magdalena. Auch sie ist Schauspielerin und gewohnt, sich in ihren Rollen zu spiegeln.

Durchzogen von Todesmetaphern

In diesem Labor, wo sich die Figuren, ihre Lebensalter, Träume, Fiktionen und Wirklichkeit vielfach brechen, bringt Peter Stamm die großen Fragen unter. Wer sind wir eigentlich wirklich? Welche Möglichkeiten haben wir, und welche Abweichungen vom vorgezeichneten Weg könnten wir einschlagen? Durchzogen ist die Geschichte von Todesmetaphern. Sie beginnt nicht zufällig mit einem gemeinsamen Spaziergang über den Friedhof, vorbei an einer Auferstehungskapelle, denn wenn es schon kein ewiges Leben gibt, so doch in dieser erzählerischen Konstellation die ewige Wiederholung. Oder ist auch die nur ein Traum?
Dass Christoph sich von seinem Doppelgänger sagen lassen muss, das Buch, von dem er so viel erzähle, habe er in Wirklichkeit nie geschriebn, ist eine weitere Pointe. Christoph tritt den Beweis des Gegenteils an, indem er das, was er einst schrieb, noch einmal schreiben möchte. Doch während er daran arbeitet, wird es "unmerklich zu einem anderen". Um diese Differenz geht es, denn sie ist der Spielraum, aus dem heraus Freiheit möglich wird – auch wenn die Beteiligten das selber nicht wissen.
Peter Stamm erzählt gewohnt präzise und sensibel. Seine Sätze sind klar, ohne je aufzutrumpfen, und deshalb schön. Es ist eine warme Sprache, die zu der kühlen Konstruktion einen spannungsreichen Kontrast bildet. Ob das literarische Kunstwerk mehr ist als ein hübsches Spielwerk, das Sinnfragen aufblitzen lässt und ineinander spiegelt, sei dahingestellt. Stamm erzeugt eine sanfte Melancholie. Das Leben vergeht zwischen Vergeblichkeit und Vorbestimmung. Auch die Liebe – und es sind ja immer Liebesgeschichten, die er erzählt – scheitert. Und doch hinterlässt sie – genau wie diese filigrane Prosa – tiefe Spuren. Und darum geht es doch wohl.

Peter Stamm: "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt"
S. Fischer, Frankfurt/Main 2018
156 Seiten, 20 Euro

Mehr zum Thema