Peter Stamm: Weit über das Land. Roman
S. Fischer, Frankfurt/M. 222 Seiten, 19,99 Euro
Geschichte des plötzlichen Verschwindens
In "Weit über das Land" beschreibt der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm einen Mann, der über Nacht seine Familie verlässt. Ungeplant geht er los und wandert durch ein menschenleeres Hinterland. Der Roman wird aus seiner und aus Sicht der Ehefrau erzählt.
Eine Familie kehrt zurück von einem schönen Urlaub am Meer. Es ist der Abend, bevor der Alltag wieder in sein Recht treten soll. Zum Aufseufzen, gewiss, ein krisenhafter Moment, bevor man dann doch schlafen geht. Thomas aber betrachtet die Büsche am Grundstücksrand und sieht sie zu einer "unüberwindbaren" Mauer emporwachsen. Die quadratische Rasenfläche – "ein Verlies, aus dem es kein Entkommen gab".
Und er geht los, ungeplant, ohne noch etwas einzupacken. Geht und geht, durch das Dorf und den nächsten Wald, entlang an Gewässern, über die Berge. Dass der Ehemann nicht mehr da ist, versucht Astrid in den nächsten Tagen routiniert zu überspielen, sie erfindet kleine Lügen für die beiden Kinder und Thomas' Arbeitgeber, macht sich so aber auch zu seiner Komplizin. Erst langsam dringen der Schrecken und die Realität des Verlusts in ihr Leben ein, und dann auch schon die Gewohnheit.
Selbst die Polizei kann ihn nicht finden
Erstaunlich genug, dass die Versuche, Thomas' mit Hilfe der Polizei aufzuspüren, ins Leere laufen. Denn er flieht nicht auf einen anderen Kontinent, sondern schlägt sich zunächst in der Schweiz durch. So wird "Weit über das Land" auch zu einem Heimatroman und Wander-Movie: die Schweiz aus der Perspektive eines Mannes erlebt, der auch die Dörfer umgeht, ein fast menschenleeres, schroffes Hinter-Land.
"Vielleicht gab es viele wie ihn, war er Teil einer über die Welt verstreuten Bruderschaft von Wanderern", denkt Thomas. Auch die Vogelzüge lehren ihn, dass Bewegung "natürlicher" sei als Sesshaftigkeit. Der Vater sei ein "Arschloch", weil er die Familie im Stich gelassen habe, meint indessen Tochter Ella. Astrid verbittet sich solche Reden, sie trägt jahrelang weiter den Ehering, empfindet Thomas "als Teil von sich", gerade in der Entfernung. In stetem, etwas mechanischem Wechsel zwischen der Daheimgeblieben und dem Entflohenen ist der Roman erzählt, bis zu einem überraschend poetischen und positiven Finale.
Vorbild sind die amerikanischen Erzähler
Peter Stamm ist geschult an der Lakonie amerikanischer Erzähler. Psychologisiert wird nicht, Humor und Ironie sind unbedingt zu vermeiden. Stattdessen: genaue Beobachtung von Landschaften, Abläufen, Menschen, scheinbaren Nebensächlichkeiten, in kurzen, schmucklosen Sätzen. Gerade bei einer solchen Geschichte des plötzlichen Verschwindens und der Verweigerung würde man jedoch gern mehr über die Motive und Anfechtungen der Figur erfahren, aber Thomas' Psyche bleibt eine Leerstelle.
Anders ließe sich die Geschichte wohl auch nicht erzählen, weil ihre mangelnde Plausibilität dann zu sehr auffiele. Oder weil sie auf Klischees hinausliefe: Normalität als Gefängnis, die Schrecken der Kleinfamilie mit ererbtem Haus und einem sicheren Job als Buchhalter, das Motiv der "Ich-bin-nicht-Stiller"-Flucht aus der bürgerlichen Identität. Das war brisant vor einem halben Jahrhundert. Hier und heute aber hat man den Eindruck, dass Peter Stamm mit seiner glattgeschliffenen Prosa um ein mutwilliges Rätsel herumschreibt.