Peter Stamm: "Wenn es dunkel wird"

Wurmlöcher ins Alltägliche bohren

05:10 Minuten
Cover des neuen Buch von Peter Stamm
Die Geschichten von Peter Stamm in "Wenn es dunkel wird" entfalten einen verblüffenden Zauber, urteilt unsere Kritikerin. © Cover: S. Fischer Verlag
Von Meike Feßmann |
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Peter Stamm erzählt über Menschen an Wendepunkten des Lebens. Manchmal sind die Überraschungen in "Wenn es dunkel wird" vorhersehbar. Großartig werden die Erzählungen, wenn der Autor kleinste Beobachtungen zu Gesellschaftsanalysen auswachsen lässt.
Es war bestimmt nur ein Zufall und es kommt schließlich ständig vor, keine große Sache also, aber wenn es nun Absicht war, womöglich böse Absicht? Egal, wie oft es in einem langen Angestelltenleben passiert sein mag, dass sich die Aufzugtür vor der eigenen Nase schloss, während eine Gruppe Kollegen so tat, als wollte sie das verhindern: Im falschen Moment kann eine Banalität große Gefühle auslösen.
Georg, der Ich-Erzähler von "Supermond", hat nur noch wenige Tage bis zur Rente. Er ist sich sicher, dass seine Firma, die Flugzeuge wartet, ohne seine Arbeit ins Trudeln kommt. Denn er führt Listen, irgendwelche ominösen Listen, um das schwierige Zusammenspiel verschiedener Software-Programme zu kompensieren. Man ahnt schnell, dieser Mann spielt längst keine Rolle mehr. Peter Stamm, sein Erfinder, lässt es ihn fühlen. Und er verdichtet das Gefühl zu einer realistisch-surrealen Geschichte.

Harmlose Anfänge

Peter Stamm, der 2018 für den Roman "Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt" den Schweizer Buchpreis erhielt, ist seit vielen Jahren eine verlässliche Konstante des deutschsprachigen Literaturbetriebs. Der 1963 geborene Thurgauer bohrt Wurmlöcher ins Alltägliche. Seine Geschichten fangen meist ganz harmlos an und inszenieren Gefühle an Wendepunkten des Lebens. Das kann auch mal ein wenig banal werden, etwa in der ersten Geschichte des neuen Bandes, in der ein Lehrling von einem Banküberfall träumt.
Meistens jedoch entfaltet es einen verblüffenden Zauber. Etwa in "Der erste Schnee". Dort verwandelt sich die Autofahrt in den Winterurlaub nach einem Ehekrach in eine "Alice im Wunderland"-Szenerie.
Viele Geschichten handeln von einsamen Menschen, deren Isolation Peter Stamm mit verschieden temperierter Aura umgibt. Die letzte der elf Geschichten, "Schiffbruch", spielt in snobistischer Umgebung. Der Held hat sein komplettes Vermögen an der Börse verspekuliert und vertieft sich in einem Zürcher Luxushotel in "Robinson Crusoe". Dagegen spielt die Titelgeschichte, "Wenn es dunkel wird", in der Einöde eines Bergdorfs. Eine Polizistin gerät auf Spurensuche in die eigene Vergangenheit. Zeiten und Räume fälteln sich wie das Gestein einer Karstlandschaft.

Eine Art Zwischenreich

Großartig ist Stamm, wenn er seine Mikrobeobachtungen zu Gesellschaftsanalysen auswachsen lässt. In "Sabrina, 2019" lässt sich eine Krankenschwester von einem Künstler als Modell für eine Statue benützen, ohne zu ahnen, zu welcher Selbstentfremdung das führen wird. Mit wenigen Strichen fängt Stamm die feinsinnige Verächtlichkeit des Kunstbetriebs für das normale Leben ein - und erfasst zugleich die Bedeutung der vermeintlich Unscheinbaren.
Die Verkleinerungskünste eines Robert Walser, die Wiederholungsstruktur von Kalendergeschichten, die ständige Verschränkung von Nichtigem und Bedeutsamen verknüpft Peter Stamm zu einer Virtuosität eigener Güte. Man erkennt das gut an der Art, wie er mit Gefühlen umgeht. Wie Schlemihls Schatten löst er sie von den Figuren ab und verpflanzt sie in eine Art Zwischenreich: Größer und kleiner als im wirklichen Leben, sind sie innen und außen zugleich, individuell und typologisch. Es sind übersichtliche Überraschungen, die Peter Stamm uns beschert. Manchmal ist das genau das Richtige.

Peter Stamm: "Wenn es dunkel wird", Erzählungen
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020
192 Seiten, 21 Euro

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