Peter Strasser: "Umdrehen und Weggehen. Eine Ethik der Abwendung"
Braumüller Verlag, Wien 2020
191 Seiten, 16 Euro
Lob der Distanz
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Müssen wir uns wirklich immer einander zuwenden und uns gegenseitig versuchen zu verstehen? Oder ist es nicht manchmal besser, sich einfach abzuwenden und wegzugehen? Das fragt der Grazer Philosoph Peter Strasser in seinem neuen Buch.
Ein ungeschriebenes Gesetz der Höflichkeit gebietet, dass wir, wenn angesprochen, reagieren. "Aber es gibt auch eine Beschwernis, wonach wir in unseren engmaschigen, hoch vernetzten Gesellschaften unter dem Druck mannigfacher Toleranzgebote und einer ebenso tiefdringenden wie umfassenden Psychologisierung permanent aufeinander zu- und eingehen sollen." Dieser Druck führe allerdings auch "zu krisenhaften Beziehungen, persönlich und sozial", so der Grazer Philosophieprofessor Peter Strasser in seinem neusten Buch.
Strasser beschwört eine Art – individuell wie sozial – gefühlten Belagerungszustand, den er mit einer "Ethik der Abwendung" durchbrechen und wohl auch therapeutisch heilen will. Mit seinem Plädoyer für eine Lebenskunst des Loslassens will er die gestörten menschlichen Beziehungen wieder in ein gesundes Gleichgewicht aus "Nähe und Distanz" überführen.
Gefahren allgegenwärtiger Verdichtung
Der Teufel liegt natürlich im Detail beziehungsweise in der Konkretion. Viele unserer Engagements oder Verstrickungen sind uns gar nicht als Ketten bewusst, weiß Strasser, sie sind scheinbar ganz natürliche Verhaltensweisen: "Die Zelle, in der wir zuhause sind". Grundübel sei die stetig wachsende "Verdichtung" des modernen Lebens. Explizit bezieht sich der Autor hier auf den Soziologen Norbert Elias, der 1939 in seinem klassischen Werk "Über der Prozeß der Zivilisation" beschrieb, wie Menschen die soziale Verhaltenskontrolle zunehmend verinnerlichten, also in Selbstkontrolle überführten.
Die Kultur habe so das Austragen der Konflikte entschärft, also für eine soziale "Entdichtung" gesorgt, so denkt Strasser die Thesen von Norbert Elias weiter. Eine der absurden Folgen sei nunmehr freilich zum Beispiel jene Political Correctness, die die inneren Konflikte per Triggerwarnung wieder an die soziale Oberfläche drängt – wo man sich dann von Bildern und Worten so bedrängt fühlen könne wie von einer handfesten Bedrohung: "Übervorsicht und Misstrauen mit all den damit verbundenen Störungen des Zusammenlebens" seien somit doch wieder beinah unvermeidlich.
Erfrischende lebenspraktische Vernunft
Beschleunigung – nicht Verdichtung – schien bislang der Fluch moderner Gesellschaften. Beschworen wir bisher Vereinsamung in großen Städten, so suggeriert Strasser genau das gegenteilige Problembewusstsein: Womöglich sind die Folgen wachsender sozialer Friktion durch die allgegenwärtige Verdichtung viel gefährlicher. Zwar ist Corona für ihn noch kein Thema, doch den Anstieg von Gewalt in den beengten, ausweglosen Soziotopen während der Kontaktsperre dieses Frühjahrs hätte er wohl sogleich als Beleg für seine These gewertet.
Einen Seitenhieb auf die Advokaten des "zwanglosen Zwangs" vernünftigen Argumentierens mag sich Strasser nicht verkneifen: Für ihn liegt darin ein "Abwendungsverbot". Wir sollten "sensibel dafür bleiben, dass es im weiten Bereich menschlicher Vielfalt nicht nur eine Vernunft" gebe. Bei aller erfrischenden lebenspraktischen Vernunft, die der Text auch ausstrahlt und vermittelt, hätte man, bei diesem spannenden Thema, vom Philosophen gern Genaueres erfahren.