Peter Trawny: "Der frühe Marx und die Revolution. Eine Vorlesung"
Verlag Klostermann, Rote Reihe
160 Seiten. 18,80 Euro
Wie bei Marx Denken und Leben zusammenhingen
Wie Marx wurde, was er war: Mit einem "sym-bio-grafischen" Verfahren nähert sich der Philosoph Peter Trawny dem jungen Karl Marx. Er zeigt auf, wie sich bei Marx Biografie und Denken gegenseitig beeinflussten und spart auch dessen Judenfeindschaft nicht aus.
Mag sein, dass die Formulierung ein bisschen reißerisch ist. Ihr Verfasser war eben Journalist, und das setzt nicht nur ein Handwerk voraus, sondern auch ein gewisses Temperament.
Aber er hatte schon Recht: Es ging wirklich ein Gespenst um in Europa, damals im Dezember 1847. Es brodelte. Frankreich und Amerika hatten Anstöße gegeben, ein Menschenalter zuvor. Dann hatte – in Europa zumindest – die Reaktion gesiegt.
Aber jetzt war ein neuer Ruf nach Freiheit zu vernehmen, wiederum in Frankreich und nun auch in Deutschland. Die Zeichen standen auf Revolution. Die Zeit schien reif.
Vom Geheimbund zur Bewegung
Der "Bund der Kommunisten" in London hatte noch den Charakter eines Geheimbundes, aber er beauftragte seine aus Deutschland stammenden Mitglieder Karl Marx und Friedrich Engels mit einer Schrift, die eine Wirkung nach außen entfalten und aus dem Bündnis eine Bewegung machen sollte. Und Marx begann mit den berühmten Worten, die das "Kommunistische Manifest" bei seinem Erscheinen 1848 zu einem Dokument der Weltgeschichte machen sollten:
"Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten."
Sym-bio-grafische Herangehensweise
Es sind die Geschichte und erste Auswirkungen vor allem dieses Dokuments, die der in Wuppertal lehrende Philosoph Peter Trawny seinen Hörern auseinandersetzt. Seine Technik dabei ist die des Erzählens. Er stellt Verbindungen her. Bettet das Geschehen ein. Verknüpft das Denken seines Protagonisten Karl Marx in ständiger Wechselwirkung mit dessen Biografie, seinen Wurzeln in der preußischen Geschichte und der Rechts- und Religionsphilosophie von Hegel, seinen Auswirkungen in den großen Debatten um die Interpretation dieser Schule und im faktischen Akademieverbot für die so genannten Linkshegelianer, zu denen sich Marx als Student in Berlin zählte. So wurde er Journalist, so erklärt sich sein Schreiben, so auch in weiten Strecken sein Denken.
Sym-bio-grafisch nennt Trawny das Verfahren – und stellt damit den Verteidigern der reinen Lehre des Marxismus ein Modell entgegen, das ihren spröden Exegesen zumindest psychologisch und dramaturgisch weit überlegen ist. Denn die Form der Vorlesung, so viel sei vorweggenommen, ist geradezu ideal für diese Form des Narrativs.
"Es gibt keine biografische Determination des Denkens, sondern es gibt eine wechselseitige Beeinflussung von Biografie und Denken. Das Philosophieren, aber auch die künstlerische Arbeit, meine ich, geschieht sym-bio-grafisch, in einer Art Symbiose von Denken und Leben. Ich hatte das am Leben von Marx gezeigt. Ich hatte gezeigt, dass seine politische Verfolgung sich aus seinem Denken ergab und dass sein Denken eine Antwort auf die politische Verfolgung war."
Der Leser wünscht, er wäre dabeigewesen
So beginnt Trawny seine zweite Vorlesung, wie es sich für einen guten Lehrer gehört, mit einer Rekapitulation des Stoffs aus der vorausgegangenen Veranstaltung. Und so hält er es auch in den folgenden der insgesamt 13 Vorlesungen zum Thema "Der frühe Marx und die Revolution" – also nicht der Marx, der das 'Kapital' schrieb, 1867, mit knapp 50 Jahren, sondern jener, der 20 Jahre zuvor der kommunistischen Bewegung ihr mitreißendes Manifest gab. Der Effekt dieser Struktur ist, dass man sich als Leser wünscht, dabei gewesen zu sein. Und wer dieses Glück hatte, ist vermutlich dankbar, die Stationen dieses Weges mit seinen Exkursen und Erläuterungen, seinen Einbettungen in die Philosophie- und Zeitgeschichte und seinen biografischen Merkwürdigkeiten noch einmal nachlesen zu können.
Zu diesen Merkwürdigkeiten gehört etwa eine kleine Schrift "Zur Judenfrage", in der Marx, damals Mitte zwanzig und selber jüdischer Herkunft, den Schacher und die Erhöhung des Geldes zu einem Fetisch, also die Wurzeln des Kapitalismus, als Wesensmerkmale des Judentums bezeichnet und als Hindernisse auf dem Weg einer gesellschaftlichen Emanzipation. Trawny sagt dazu, was zu sagen ist, und bleibt dennoch seinem Verfahren der sym-bio-grafischen Einbettung treu.
"Es lässt sich nicht beschönigen oder gar ignorieren: Marx' Verkürzung des Judentums auf die Geldfixierung gehört zur Geschichte des Antisemitismus. Dennoch muss auch betont werden, dass Marx' Antisemitismus einer des frühen 19. Jahrhunderts ist. Noch gibt es in ihm keine rassistischen Charakterisierungen im biologistischen Sinne. Auch wäre es Marx gewiss nicht in den Sinn gekommen, das Judentum unter dem Aspekt seiner möglichen Auslöschung zu betrachten. Die Dimension eines Hitlerschen Antisemitismus kann nicht auf die Mitte des 19. Jahrhunderts rückübertragen werden; das wäre ahistorisch."
Ist eine Revolution noch möglich?
Die Jugendsünde eines brausenden Temperaments also? Oder doch die Relativierung einer Lehre als Produkt ihrer Zeit, das deshalb auch nicht über diese Zeit hinaus Gültigkeit beanspruchen darf? Peter Trawny schafft es – wenn solches Urteil für eine philosophische Schrift überhaupt ein Kriterium ist – er schafft es, 13 Lektionen lang den Bogen gespannt zu halten, die ökonomische und gesellschaftliche Vision des jungen Karl Marx immer wieder aus der Philosophie herzuleiten, sie über die politisch sterilisierte Form hinweg zu retten, zu der sie in den sozialistischen Staaten heruntergebrochen wurde, und die Forderung nach einer Revolution aufrecht zu halten, die über die revolutionären Unruhen seiner eigenen Zeit hinaus tatsächlich, wie Marx es in seinem Kommunistischen Manifest fordert, die Proletarier aller Länder vereinigen möge. Diese Revolution aber liegt auch für Peter Trawny in einer philosophisch wie grammatikalisch äußerst komplexen, nämlich einer vollendeten Zukunft:
"Ist eine Revolution noch möglich? Diese Frage ist so leicht zu stellen, wie sie schwierig zu beantworten ist. Genauer betrachtet gibt es auf sie keine Antwort. Zumindest das lässt sich sagen: Solange die wirkliche Wirklichkeit eine gerechte Gesellschaft verhindert haben wird, wird die Frage immer wieder gestellt worden sein."