Peter Watson: Das Zeitalter des Nichts
Eine Ideen- und Kulturgeschichte von Friedrich Nietzsche bis Richard Dawkins
Übersetzt von Amélie Brandeis
C. Bertelsmann Verlag, München 2016, 767 Seiten, 29,99 Euro
Lebensfroh auch ohne Gott
Dieser Autor hat eine atheistische Mission. Mit wenigen Federstrichen lässt Peter Watson viele Denker lebendig werden, die in unserem Zeitalter neue Lebensentwürfe geliefert haben − abseits von Religion und Glauben. Und er lässt auch die problematischen Seiten der Gottlosigkeit nicht aus.
Ohne Gott leben, muss das heißen: innerlich ärmer leben als religiöse Menschen? Unbehaust, freudlos, haltlos hedonistisch? Keineswegs, meint Peter Watson in seinem neuen Buch "Das Zeitalter des Nichts", leidenschaftlich argumentierend auf über 700 Seiten. Spätestens seitdem Nietzsche den berühmten Satz vom längst toten Gott in die Welt setzte, floss ein breiter Strom atheistisch-säkularer Lebens- und Sinnentwürfe durch das Abendland. Denker, Dichterinnen, Soziologen, Psychologen, Malerinnen, Musiker, Exzentrikerinnen, Einsiedler, philosophische Abenteurer und staunende Physiker suchten nach Alternativen und fanden sie auch.
Ein riesiges Spektrum nimmt der Autor in den Blick. Sigmund Freud, Henri Matisse, T.S. Eliot, John Butler Yeats, Virginia Woolf, Merce Cunningham, Max Weber, Martin Heidegger, Mary Midgley, James Lovelock und zahllose weniger bekannte Protagonisten – Peter Watson lässt sie und ihre nüchternen oder gefühlsbetonten, kühlen oder wildromantischen Ideen mit wenigen Federstrichen lebendig werden und zeigt, dass sich menschliches Leben auch nichtreligiös klug und psychologisch sinnvoll führen lässt: durch Spontaneität oder Erlebnisintensivierung, in stolzer Freiheit oder mit einer Ästhetik der Fülle, im Bewusstsein der Evolution oder im gemeinschaftlichen Tun.
Mit einer atheistischen Mission
Obgleich der Autor mit einer atheistischen Mission antritt, ist sein Buch in einem wohltuend undogmatischen Ton geschrieben, fern jenes Eifers, den man etwa in der "Brights"-Bewegung findet, einem internationalen, publikationsfreudigen Zusammenschluss von Atheisten.
Deren Hang zur hermetischen Weltdeutung bedenkt Peter Watson mit derselben Kritik, die er auch der selbstgerechten Religiosität angedeihen lässt, und macht in seinem Buch gern Platz für die Grenzgänger und Grenzverwischer zwischen Spiritualität und Atheismus, für Exzentriker und Experimentierfreudige wie Alan Watts, Rainer Maria Rilke oder Timothy Leary. Sie alle konnten mit der etablierten Religion nichts anfangen, gaben sich aber fernöstlichen oder New-Age-mystischen, drogenbeseelt kosmisch-psychedelischen oder poetischen, auch gesungenen Tauchgängen hin, die semi-spirituellen Charakter hatten und teils auf Transzendenzerfahrungen zielten.
Es lebe der Tanz und die Musik
Auch die problematischen Seiten der Gottlosigkeit kommen bei Peter Watson nicht zu kurz: Grausamkeit im Namen von Ersatzreligionen nationalistischer oder kommunistischer Couleur, das düstere Erschrecken mancher Denker angesichts der hoffnungslosen Ausgesetztheit des Menschen im eisigen Weltall oder die wichtige Frage, wie sich in einer Welt ohne Gott Moral schlüssig begründen lässt.
Dennoch überwiegen in der Bilanz des Autors die lebensfrohen Akzente: Gott mag tot sein, doch es lebe der Tanz und die Musik, die Poesie und die unerschöpfliche Vieldeutigkeit des Wortes, die Philosophie und die Fülle der Geheimnisse, die der Mensch trotz aller Entzauberungen durch die Wissenschaft weiterhin täglich erfährt, der mächtige Schrecken vor den Abgründen unseres Seins und die pure Lebensfreude – eine großartige Botschaft, von Peter Watson großartig in Szene gesetzt.