Petra Köpping: Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten
Christoph Links Verlag, Berlin 2018, 180 Seiten, 18 Euro
Narben auf der Seele, lebenslang
Eigentlich ist die sächsische Integrationsministerin für Neuankömmlinge zuständig. Als sie ihr Amt antrat, merkte sie allerdings: Die eigene Bevölkerung fühlt sich desintegriert. Aus Petra Köppings Erfahrungen ist ein bewegendes Buch entstanden.
"Ich bin sehr emotional, meine Seele ist kaputt. Und nicht nur meine. Wir sind in der Altersarmut gelandet. Wir sind schon in der Altersarmut gelandet, und warum?" Mit stockender Stimme erzählt Helga Förster ihre Geschichte. Wie sie, die bei Zittau in einer Drogerie gearbeitet hatte, sich nach der Wende selbstständig machte. Und dann alles verlor: "Ich hatte damals einen Chef, der sagte zu mir: Frau Förster, dass sie das schaffen, das weiß ich, so fleißig, wie Sie sind. Aber warten Sie ab, bis der Kapitalismus richtig hart zuschlägt. Und der hat bei uns im Ort richtig zugeschlagen. Hirschfelde ist heute ein verlorener Ort."
Förster hat ihre Geschichte im vergangenen Sommer im Dresden erzählt, auf Einladung von Petra Köpping. Die ist seit 2014 sächsische Integrationsministerin, die erste in diesem Amt. Angetreten zu einer Zeit, in der in Dresden Pegida entstand.
Eine Integrationsministerin für Dagebliebene
Köpping ging hin und unterhielt sich: "Und in dieser Zeit haben mir viele Menschen gesagt, ah, Frau Köpping, Sie immer mit Ihren Flüchtlingen. Integrieren Sie doch erst mal uns. Und immer und immer wieder. Wo ich gemerkt habe, da ist ein anderes Thema einfach in den Köpfen und in den Herzen drin, als dass wir über Flüchtlinge reden. Sondern jemand, der mit seiner eigenen Vergangenheit noch nicht alles abgeklärt hat oder unzufrieden ist, wie man mit ihm umgeht im Staat, der kann auch andere Menschen nicht anerkennen, da stelle ich einen engen Zusammenhang her."
Köpping reist seitdem durchs Bundesland und hört sich die Geschichten an. Von denen, deren Leben sich nach 1990 komplett gewandelt hat. Während die einen die neuen Freiheiten begrüßen und aufsteigen konnten, bleiben für andere lebenslange Narben auf der Seele. In "Integriert doch erstmal uns – Eine Streitschrift für den Osten" zitiert Köpping immer wieder Beispiele aus ihren Gesprächen oder aus Mails.
Es sei eben nicht alles gesagt, so Köppings These. Denn es gibt auch Kritik an ihrer Arbeit: Wieso alles wieder hervorholen, wo die Arbeitslosigkeit in Sachsen so niedrig ist wie nie, die Autobahnen neu und die Innenstädte frisch saniert.
Doch der Schatten der Nachwendezeit sei lang, schreibt Köpping und verdecke zunehmend die vielen Erfolge der Deutschen Einheit. Köpping umreißt, was insbesondere für Menschen, die die DDR nicht mehr oder nur aus der Ferne erlebt haben, schwer nachzuvollziehen ist. Welche Brüche die Wende und die Wiedervereinigung brachten. Und wie Kränkungen bleiben – auch bei denen, denen es wirtschaftlich gut geht. Hier sieht Köpping einen Schlüssel zum Misstrauen und der Distanz zur Demokratie in Sachsen und in Ostdeutschland. Und damit zur Wut und zu den hohen Zustimmungsraten zur AfD.
Köpping reist seitdem durchs Bundesland und hört sich die Geschichten an. Von denen, deren Leben sich nach 1990 komplett gewandelt hat. Während die einen die neuen Freiheiten begrüßen und aufsteigen konnten, bleiben für andere lebenslange Narben auf der Seele. In "Integriert doch erstmal uns – Eine Streitschrift für den Osten" zitiert Köpping immer wieder Beispiele aus ihren Gesprächen oder aus Mails.
Es sei eben nicht alles gesagt, so Köppings These. Denn es gibt auch Kritik an ihrer Arbeit: Wieso alles wieder hervorholen, wo die Arbeitslosigkeit in Sachsen so niedrig ist wie nie, die Autobahnen neu und die Innenstädte frisch saniert.
Doch der Schatten der Nachwendezeit sei lang, schreibt Köpping und verdecke zunehmend die vielen Erfolge der Deutschen Einheit. Köpping umreißt, was insbesondere für Menschen, die die DDR nicht mehr oder nur aus der Ferne erlebt haben, schwer nachzuvollziehen ist. Welche Brüche die Wende und die Wiedervereinigung brachten. Und wie Kränkungen bleiben – auch bei denen, denen es wirtschaftlich gut geht. Hier sieht Köpping einen Schlüssel zum Misstrauen und der Distanz zur Demokratie in Sachsen und in Ostdeutschland. Und damit zur Wut und zu den hohen Zustimmungsraten zur AfD.
Die Folgen der Treuhand müssen aufgeklärt werden
Das ganze Leben vieler Menschen sei damals schlicht entwertet worden. Arbeitslosigkeit, Umschulungen, niedrige Löhne bis heute. Köpping, die zu Wendezeiten Bürgermeisterin war und dann als Versicherungsvertreterin gearbeitet hat, weiß, wovon sie spricht. Und geht gleichzeitig mit ihren Mitbürgern ins Gericht, von denen viele zu sehr an sich gedacht hätten: "Die Nachwendezeit ging mit einer Entsolidarisierung ungekannten und teilweise erschütternden Ausmaßes einher: Weil nun jeder den anderen beargwöhnte, brach der einstige Zusammenhalt völlig auseinander, nicht unbedingt in der Nachbarschaft, aber in den Arbeitskollektiven, die sich nun Teams nannten, auf jeden Fall."
Ein ganzes Kapitel widmet Köpping der Arbeit der Treuhand, deren Handeln viele als Betrug an ihrem Leben und ihrer Region betrachten. Demokratie sei – anders als im Westdeutschland der 1950er Jahre - nicht mit wirtschaftlichem Aufschwung verbunden gewesen. Die Arbeit der Treuhand aufzuarbeiten, dem nachzugehen, ist eine von Köppings Forderungen am Ende des Buches: "Es darf nicht weiter der Eindruck entstehen, dass die Ungereimtheiten der Nachwendezeit vergessen oder verdrängt werden. Ich will das Gegenteil von öffentlicher Ignoranz. (…) Es gilt, das Schiefgelaufene in jenem großen, so schnell erfolgten historischen Umbruch besser verstehbar, benennbar und handhabbar zu machen."
Bis heute seien es westdeutsche Eliten, die den Osten dominierten. Etwa in Industrie und Wissenschaft, wo in Westdeutschland geborene deutlich überrepräsentiert sind, genauso wie im Bundeskabinett oder auf Staatssekretärsebene.
So, wie Köpping als Ministerin auftritt, so schreibt sie auch: abwägend, versöhnend, ausgleichend. Weswegen das Wort "Streitschrift" im Untertitel oft unangemessen wirkt. Für jedes Argument und jede Forderung hat sie auch das Gegenargument parat. Nein, Enttäuschung rechtfertige keine faschistischen Positionen. Ja, Rechtsextremismus sei ein riesiges Problem in Sachsen. Und doch, in der ostdeutschen Politik entspreche der Anteil der Ostdeutschen fast dem statistisch Erwartbaren.
Ein ganzes Kapitel widmet Köpping der Arbeit der Treuhand, deren Handeln viele als Betrug an ihrem Leben und ihrer Region betrachten. Demokratie sei – anders als im Westdeutschland der 1950er Jahre - nicht mit wirtschaftlichem Aufschwung verbunden gewesen. Die Arbeit der Treuhand aufzuarbeiten, dem nachzugehen, ist eine von Köppings Forderungen am Ende des Buches: "Es darf nicht weiter der Eindruck entstehen, dass die Ungereimtheiten der Nachwendezeit vergessen oder verdrängt werden. Ich will das Gegenteil von öffentlicher Ignoranz. (…) Es gilt, das Schiefgelaufene in jenem großen, so schnell erfolgten historischen Umbruch besser verstehbar, benennbar und handhabbar zu machen."
Bis heute seien es westdeutsche Eliten, die den Osten dominierten. Etwa in Industrie und Wissenschaft, wo in Westdeutschland geborene deutlich überrepräsentiert sind, genauso wie im Bundeskabinett oder auf Staatssekretärsebene.
So, wie Köpping als Ministerin auftritt, so schreibt sie auch: abwägend, versöhnend, ausgleichend. Weswegen das Wort "Streitschrift" im Untertitel oft unangemessen wirkt. Für jedes Argument und jede Forderung hat sie auch das Gegenargument parat. Nein, Enttäuschung rechtfertige keine faschistischen Positionen. Ja, Rechtsextremismus sei ein riesiges Problem in Sachsen. Und doch, in der ostdeutschen Politik entspreche der Anteil der Ostdeutschen fast dem statistisch Erwartbaren.
Kein Jammern – Gerechtigkeit!
Köpping schreibt: "Ich will nicht, dass wir jammern, ich will Gerechtigkeit. Wir sind keine Bürger zweiter Klasse. Allerdings müssen wir dann auch selbst so auftreten. Auf Augenhöhe und selbstbewusst." Und deshalb fordert sie zu mehr ostdeutschem politischem Engagement auf. Und gerade die Jüngeren auch zum Nachfragen über die Zeit nach 1990. Denn während vielen der unter 30-Jährigen die Frage nach Ost und West unbedeutend erscheine, sehen sich Umfragen zufolge 70 Prozent der unter 30-Jährigen in Sachsen als "Bürger zweiter Klasse." Tendenz zuletzt steigend.
Wer die sächsische Politik aus der Nähe verfolgt hat, wird bei Petra Köpping wenig Neues finden. Doch insbesondere für Jüngere und westdeutsch sozialisierte Menschen ist dieses Buch lesenswert. Es kann Anstoß für eine neue Debatte geben. Gerade in einer Zeit, in der viele Menschen im gesamten Bundesgebiet irritiert auf "die Sachsen" blicken. Denn Köpping dürfte Recht haben, wenn sie schreibt: "Die meisten Westdeutschen haben noch nicht verstanden, was eigentlich wirklich im Osten nach 1990 passiert ist."