Wie bei der Mafia
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Der katholische Pfarrer Peter Kossen kämpft gegen Ausbeutung und moderne Sklaverei in der Fleischindustrie. Damit macht er sich nicht nur Freunde. Selbst in der eigenen Gemeinde kommen einige deshalb nicht mehr zur Messe.
"Die ständige Ausweitung der Werkvertrags- und Leiharbeit und ihr Missbrauch zum Lohndumping ist wie ein Krebsgeschwür, das seinen Ausgang genommen hat in der Fleischindustrie und mittlerweile in der Metallindustrie, in der Logistik und anderen Bereichen genauso verheerend unterwegs ist."
Der 52-Jährige Pfarrer Peter Kossen nutzt deutliche Worte. Der Mann mit der grau melierten Raspelfrisur und der randlosen Brille stammt eigentlich aus der Region Vechta, mitten im niedersächsischen Schweinegürtel. Nach seinem Theologiestudium in Münster war er mehrere Jahre im niederrheinischen Emmerich. Als er 2011 nach Vechta zurückkam, war er entsetzt über die katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen in der Fleischindustrie:
"Das war an mit vorübergegangen, dass man Stammbelegschaften in diesen Betrieben in großen Teilen durch atypische Beschäftigungen ersetzt hat. Ich bekam Dinge geschildert, die ich nicht für möglich gehalten habe."
Sechs Tage die Woche, Zwölf Stunden pro Tag
Oft müssten die Arbeiter aus Rumänien, Bulgarien und Polen sechs Tage die Woche für zwölf Stunden pro Tag in den Schlachtbetrieben arbeiten; für einen Stundenlohn, der bei rund fünf Euro liege. In den Unterkünften teilten sich manche zu dritt eine Matratze, sagt Kossen.
"Da habe ich gedacht: Was ich tun kann, ist Öffentlichkeit herstellen, auch Dinge beim Namen zu nennen."
Der Priester kritisierte die Verhältnisse in der Fleischindustrie so klar und deutlich, dass eines Morgens ein Kaninchenkopf vor seiner Haustür lag: eine Warnung, wie man sie aus Mafiafilmen kennt. Das hielt Kossen aber nicht davon ab, diese Verhältnisse als moderne Sklaverei zu bezeichnen.
Die Fleischindustrie bestreitet die Vorwürfe
"Leute kommen hierher, natürlich freiwillig. Dann ist die erste Erfahrung, dass was versprochen wurde, nicht eingehalten wurde. Dass Wohnungen überbelegt sind, dass Entlohnungen eben nicht so stattfindet wie in Aussicht gestellt. Wenn Menschen dann mal hier sind, werden ihnen mehrere Rechnungen aufgemacht. Für den Transport hierher, für die Beschaffung der Arbeitsstelle. Manchmal tut sich da ein imaginärer Schuldenberg auf, der abgearbeitet werden muss. Die Deutungshoheit, wann denn Schulden bezahlt sind, liegt dann beim Arbeitgeber. So werden manchmal Menschen über Jahre hingehalten."
Moderne Sklaverei, das ist natürlich ein massiver Vorwurf. Den will Andre Vielstädte nicht stehen lassen. Er ist Unternehmenssprecher des Fleischkonzerns Tönnies.
"Die Leute kommen freiwillig und die arbeiten auch freiwillig. Hier von Sklaverei zu sprechen ist falsch. Wir würden uns freuen, wenn Herr Kossen das direkte persönliche Gespräch mit den direkt Beteiligten sucht – wir stehen dafür zur Verfügung."
Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher tragen eine Mitschuld
Peter Kossen hat erklärt, er stehe für ein solches Gespräch nur zur Verfügung, wenn es substanzielle Zusagen gäbe, dass sich an den Arbeits- und Lebensbedingungen etwas ändere.
Was den Priester aus Lengerich aber auch umtreibt: Die Verbraucherinnen und Verbraucher würden von den billigen Arbeitskräften indirekt profitieren, zugleich aber lieber wegschauen:
"Es gibt doch hunderttausende Menschen, die in unserer sozialen Marktwirtschaft unter Verhältnissen leben, die eigentlich in unserem Rechtssystem nicht mehr möglich sein sollten."
Wie soll man sich bei diesen Arbeitszeiten integrieren?
Kossen hat den Verein "Aktion Würde und Gerechtigkeit" gegründet. Dort können sich Leiharbeiterinnen und -Arbeiter unter anderem in arbeitsrechtlichen Fragen beraten lassen.
"Ich habe mal Leuten gesagt: 'Ihr müsst doch Deutsch lernen, sonst kommt ihr da nicht raus.' Aber dann sagten mir Leute: 'Wenn ich elf Stunden am Tag gearbeitet habe und das sechs Tage die Woche, dann kann ich kein Deutsch mehr lernen.' Das bedeutet, sie bleiben in ihrer Community, sie vereinsamen auch, kommen in unserer Freizeitgesellschaft nicht an."
Nicht alle in der Kirche stehen auf Kossens Seite
Kossen ist katholischer Priester aus dem Bistum Münster. Sein Engagement stößt in seiner Kirche nicht überall auf Zustimmung. Es gibt Mitbrüder, andere Pfarrer, die ihm nahelegen, lieber nicht so laut zu agieren. Manchen in der Gemeinde gilt er als "Nestbeschmutzer". Einige haben erklärt, sie würden nicht mehr die Messe besuchen, solange "der Kossen da predige". Aber für Peter Kossen ist sein Engagement auch ein Akt der christlichen Nächstenliebe: "Wir sind als Kirche immer sehr versucht, sehr bürgerlich zu sein, und diese Menschen ganz aus dem Blick zu verlieren."
Er wünscht sich von den Kirchen ein deutliches Statement: "Ich glaube, das wäre ein gewaltiger Aufschlag, wenn die katholischen und evangelischen Bischöfe in Deutschland mal ein sehr klares Sozialwort sprechen würden und nicht so ausgewogen wie das letzte, was im Grunde keinen interessiert. Man muss die Situation auch immer vermittelnd darstellen, aber wenn wir nicht den Mut haben, auch anstößig zu sein, dann werden wir auch nichts anstoßen. Und da wünsche ich mir von den Bischöfen den Mut, anstößig zu sein."
Die Bundesregierung hat das Problem erkannt
Angestoßen wurde mittlerweile ja etwas auf der politischen Ebene. Die Coronakrise hat in der Öffentlichkeit sehr deutlich gemacht, wie die Situation für die südosteuropäischen Arbeiter auf den Schlachthöfen aussieht. Die Politik hat reagiert. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, um die Werkverträge stark einzuschränken. Im Sommer hat er verkündet, "der Verschleierung und organisierten Verantwortungslosigkeit ein Ende zu setzen und in der Fleischindustrie gründlich aufräumen".
In Betrieben mit mehr als 50 Mitarbeitenden sollen nun Werkverträge verboten und die Leiharbeit stark eingeschränkt werden. Peter Kossen reicht das nicht:
"Nur wenn die Gesellschaft einfordert, dass Arbeitsmigranten auch wirklich wertgeschätzt und integriert werden, nur dann besteht die Chance, dass sich grundlegend etwas ändert. Das Gesetz ist wichtig, aber es kann nur ein Anfang sein. Ich bin da wirklich mittlerweile einigermaßen skeptisch, was diese Neuaufbrüche betrifft."
Immerhin hat der Tönnies-Konzern angekündigt, man wolle alle Mitarbeiter der Subunternehmen direkt im Konzern einstellen; doch viel ändern wird sich womöglich doch nicht. Auf die Frage, ob dann die osteuropäischen Fleischarbeiter künftig mehr Geld verdienen würden, antwortet Tönnies-Sprecher Andre Vielstädte: "Nein, das nicht. Die Veränderung für die Mitarbeiter ist der Briefkopf auf dem Abrechnungsbogen."
Peter Kossen bleibt unzufrieden
Und auch der Gesetzgebungsprozess ist ins Stocken geraten. Nach einer Intervention der Unionsfraktion im Bundestag liegt der Gesetzentwurf zur Beendigung der Werksverträge in der Fleischindustrie erst einmal auf Eis. Sehr zum Ärger von Peter Kossen, der unmittelbar nach dieser Entscheidung der Parlamentarier per Pressemitteilung erklärte:
"Die Erfahrung der vergangenen Jahre zeigt, dass die mafiös durchseuchte Fleischindustrie jedes Schlupfloch brutal zur Ausbeutung und Abzocke ausnutzt. Mit der Mafia jedoch kann man keine Kompromisse machen! Keine Zugeständnisse auf Kosten von Würde und Gerechtigkeit! Die CDU/CSU sollte Partei ergreifen für die Opfer, nicht für die Täter!"
Wahrlich ungewöhnliche Töne für einen Priester. Aber wenn man Peter Kossen begegnet, dann spürt man: Auch, wenn er äußerlich ganz ruhig bleibt, das Schicksal der Leiharbeiter wühlt ihn innerlich auf. Und wird ihn auch künftig nicht schweigen lassen.