Sebastian Wolfrum: "Endlich ich. Ein transsexueller Pfarrer auf dem Weg zu sich selbst"
Claudius Verlag, München 2019
160 Seiten, 18 Euro
Aus Silke wurde Sebastian
08:03 Minuten
Seit der Kindheit fühlte sich Pfarrer Sebastian Wolfrum im falschen Körper. 2017 outete er sich als transident und entschied sich für eine Geschlechtsanpassung. Wie sein Glaube und seine Gemeinde ihm helfen, erzählt er in dem Buch "Endlich ich".
Sonntagvormittag in Veitshöchheim bei Würzburg. Etwa 40 Mitglieder der evangelischen Gemeinde haben sich zum Gottesdienst versammelt. In der heutigen Predigt spricht Pfarrer Sebastian Wolfrum über das Thema "Berufung". Wer berufen ist, der kennt keine Grenzen, verleugnet Grenzen, ignoriert sie – und macht weiter, gegen allen Widerstand." Vordergründig spricht Wolfrum dabei über den Propheten Jeremias und die junge Umweltaktivistin Greta Thunberg. Es geht um Segen und Fluch derer, die ihrer Berufung folgen. Aber wer die Geschichte des Pfarrers kennt, ahnt: Hier spricht einer auch über seine persönlichen Erfahrungen.
Ein Leben aus zwei Perspektiven erzählt
In seinem Buch "Endlich ich" erzählt Sebastian Wolfrum aus zwei Perspektiven von seinem Weg als transidenter Pfarrer. In der dritten Person spricht er von "ihr", Silke, der Frau, in deren Körper er sich nie wohl gefühlt hat, und in der Ich-Perspektive von Sebastian, dem Mann, der seit gut anderthalb Jahren befreit ist von der Qual eines lebenslangen Versteckspiels.
"Das Gefühl, dass ich 'falsch' bin, dass ich nicht dazu passe, das habe ich von kleinauf", sagt Wolfrum, "ohne dass ich immer schon Begriffe dafür hatte, das genau so zu formulieren. Mein Kopf sagt mir: Ich passe nicht zu dem, wie ich ausschaue, wie ich bin. Das ist ja das Eigentliche der Dysphorie, die transidente Menschen mit sich herumtragen: Dass ihr Kopf ihnen etwas anderes sagt als die körperliche Hülle ihnen erzählt."
"Ich muss nicht der strahlende Held sein"
Aus der Dysphorie, einer mit negativen Gefühlen einhergehenden Störung des emotionalen Erlebens, erwachse für die meisten transidenten Menschen viel Leid, sagt Wolfrum. Er wurde 1971 in einem weiblichen Körper geboren und auch als Mädchen erzogen. In seinem Buch berichtet er von seiner einsamen Kindheit, dem frühen Tod des Vaters, den Qualen der Pubertät, in denen der Jugendliche seinen Weg zum Glauben findet und sich schließlich für ein Theologie-Studium entscheidet.
"Das Christentum ist eine Religion, die sich mit den Geschlagenen und den Schwachen verbündet und solidarisiert", sagt Wolfrum, "exemplarisch und in der letzten Konsequenz durchgezogen in der Person Jesu Christi, der bis zum Tod sich da hineinbegeben hat. Das hat mir viel Halt und Trost gegeben, weil ich mich darin wiederfinde zu sagen: Ich muss nicht der strahlende Held sein, der sich sicher sein kann, dass Gott auf seiner Seite steht. Sondern ich kann mir sicher sein: In dem, was ich auch an Schwierigem erlebt habe, ist Gott trotzdem dabei."
Darf man Gott ins Handwerk pfuschen?
Wolfrum verweist auf zahlreiche biblische Texte und Erzählungen, die ihn auf seinem Weg zu sich selbst bestärkt haben. Die Jakobs-Geschichte etwa oder Jeremia Kapitel 1, Vers 5. Dort heißt es: "Ich kannte dich, noch ehe ich dich im Mutterleib gemacht hatte." Wolfrum erklärt: "Schon bevor du konkrete Gestalt angenommen hast, kannte ich dich und hatte eine Beziehung mit dir. Ich lese die Stelle natürlich so: Das ist eine Beziehung, die unabhängig von der Gestalt ist, und auch über die Gestalt hinausgehen wird."
Pfarrer Wolfrum hat auf seinem Glaubensweg unterschiedliche Richtungen und Interpretationen des christlichen Glaubens kennengelernt. Als Jugendlicher gehörte er einer Gruppe evangelikaler Christen an, für die jede Form abweichender Sexualität Sünde war. Noch heute frage er sich, so schreibt er in seinem Buch: "Darf man Gott ins Handwerk pfuschen? (...) Mein Körper wird sich unter Testosteron umbauen, Operationen werden den Prozess ergänzen." Immer wieder werde er aufgefordert, er möge sich so akzeptieren, wie Gott ihn geschaffen habe.
Dem Körper kann geholfen werden
"Hinter der Aufforderung, nichts zu ändern, höre ich die Überzeugung oder Hoffnung, Gott mache keine Fehler",. schreibt Wolfrum. "Diesen Satz kann ich durchaus unterschreiben. Gleichzeitig ist der menschliche Körper so vielfältig und variantenreich, und mitunter muss man ihm medizinisch helfen, damit der Mensch, der in diesem Körper steckt, gut leben kann. Das gilt auch für die Menschen, denen lebenswichtige Hormone fehlen, Insulin, Testosteron, Östrogen, Schilddrüsenhormone."
Das habe ihn tatsächlich an sich selbst fasziniert, sagt Wolfrum: "Dass ich in der Beziehung Gottes zu mir nie das Gefühl hatte: Das darf nicht sein. Ob Gott mich so haben will – in der Binnenperspektive Gott-Sebastian war das nie eine Frage."
Von der Ehe zur lesbischen Beziehung
Sebastian Wolfrum schreibt von seinen Erfahrungen in verschiedenen Kirchengruppen, von sexuellem Missbrauch durch einen evangelischen Pfarrer, von der Flucht in eine Ehe mit einem ehemaligen Klassenkameraden, die nach einigen Jahren geschieden wird. Er berichtet von einer zerbrochenen lesbischen Beziehung, von Gewaltfantasien und schließlich von dem Entschluss, sich als transident zu outen. Ein Entschluss, der auch ein großes Wagnis bedeutete, denn Wolfrum war sich nicht sicher, wie seine Gemeinde reagieren würde:
"Sie haben mich hier in einer großartigen Weise unterstützt und begleitet und tun das auch bis zum heutigen Tag. Sie nehmen Anteil an dem, was mit mir passiert – und haben mich da wirklich auch durchgetragen."
Nach der OP: ein Alltagstest als Mann
Das gelte auch für seine Landeskirche, sagt Wolfrum. Diese Unterstützung bedeute ihm viel, denn die Transition, die medizinische und juristische Angleichung des realen Körpers an das gefühlte Geschlecht, ist ein langwieriger und psychisch oft sehr belastender Prozess. Unterstützt wird er darin auch von seiner Partnerin Johanna Klee. Sie ist Pfarrerin in Braunschweig.
"Wir haben uns bei einer Fortbildung kennengelernt", sagt Klee. "Wenn man sich aufmacht, diesen Weg zu gehen, gibt es immer eine Erprobungsphase." – "Der Alltagstest", wirft Wolfrum ein. – "Der Alltagstest, wo man quasi probiert, wie das ist, als Mann zu leben", sagt Klee. "Und da haben wir uns am ersten Tag kennengelernt."
Vorbild sein, Mut machen und – versöhnen
Johanna Klee sagt, es sei nicht immer einfach, mit einem Menschen mit so vielen Brüchen und Veränderungen in der Lebensgeschichte eine Beziehung zu führen. "Dieser ganze Prozess von außen betrachtet kommt mir schon sehr als Eingriff in das Privatleben vor", sagt sie. "Weil halt 'trans' teilweise immer noch als psychische Störung betrachtet wird, deswegen braucht es zwei psychiatrische Gutachten, um dann vor dem Gericht bestehen zu können. Selbst wenn die Therapeuten das selbst nicht so sehen: Der Prozess selbst ist auch erst einmal eine Stigmatisierung und man wird eben als psychisch krank betrachtet."
Auch deshalb hat Sebastian Wolfrum sein Leben nun aufgeschrieben. Um auf die Probleme von transidenten Menschen allgemein hinzuweisen, um Mut zu machen für diesen Schritt, um Vorbild zu sein – und letztlich auch, um sich mit sich selbst zu versöhnen. "Es gibt viele transidente Menschen, die, was ich gut verstehen kann, mit ihrem vorauslaufenden Leben nichts mehr zu tun haben wollen", sagt er. "Es gäbe für mich, glaube ich, genügend Gründe, das ähnlich zu tun. Auf der anderen Seite bedeutet es für mich wirklich einen Schritt zur Versöhnung, zur Akzeptanz, zur Integration, zu sagen: Okay, dieses Leben war, so wie es war, ich kann es nicht verändern – und da drin irgendwo auch Positives zu sehen"