Was blüht denn da?
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Eine App, die innerhalb von Sekunden Pflanzen erkennt: Mit "Flora Incognita" kann jeder und jede beim nächsten Spaziergang richtig Eindruck schinden – ganz ohne eigenes Wissen. Gleichzeitig wird bei der Nutzung der App auch die Forschung unterstützt.
Den Bienen geht es gut in der Wiese auf dem Gelände der Technischen Universität Ilmenau. Lilafarbene und gelbe Blumen stehen im hochgewachsenen Gras. Die Namen der Pflanzen sind dem Reporter unbekannt.
Jana Wäldchen, promovierte Biologin, kann helfen. Natürlich würde sie die Blumen erkennen, aber es geht ihr um die App auf ihrem Handy – Flora Incognita, die "unbekannte Pflanze" also.
"Wir haben jetzt hier so ein Startbild mit drei großen, auffälligen Blumen. Und wenn man eine Pflanze bestimmt, dann drückt man auf die blaue Plus-Blume. Dann wählt man aus, welche Lebensformen die Pflanze vor einem hat", erklärt sie.
"Also, ist es eine Blume? Ist es ein Baum, ein Gras oder ein Farn? Und wir wählen jetzt hier die Blume aus. Und dann fragt die App nach einem typischen Bild von einer Blüte. Und die fotografiere ich jetzt." Sie fotografiert die lilafarbene Blume und wählt die Option "Foto benutzen".
"Jetzt wird das Foto an die Server der TU Ilmenau gesendet", erläutert die Biologin, "und in wenigen Sekunden erhalten der Nutzer und die Nutzerin das Ergebnis. Und hier in unserem Beispiel die gewöhnliche Vogelwicke."
Ob sie das Ergebnis bestätigen kann, will der Reporter wissen. "Das kann ich bestätigen, dass das auch richtig ist", antwortet die Expertin.
Die Bestimmung von Pflanzen vereinfachen
Jana Wäldchen arbeitet am Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena. Einen guten Teil ihrer Arbeitszeit aber verbringt sie in Ilmenau, bei den Informatikern an der TU. "Mein Interesse ist, dass ich damals die Idee hatte: Es wäre schön, Pflanzenbestimmung zu vereinfachen und somit jedem Interessierten zugänglich zu machen."
Mit dem Bestimmen der Pflanzen bekommen Menschen, die die App nutzen, vielleicht einen besseren Blick für die Vielfalt dessen, was um sie herum wächst, meint die Biologin.
Für ihre Idee erhoffte sich Jana Wäldchen Hilfe von der TU Ilmenau: Eine Software, die Pflanzen in ihrer natürlichen Umgebung erkennen kann. Hier kam vor neun Jahren Patrick Mäder ins Spiel, inzwischen leitet er das Fachgebiet datenintensive Systeme und Visualisierung.
"Wir wollen also Pflanzen erkennen. Das heißt, wir brauchen möglichst viele Bilder, die die Arten, die wir erkennen wollen, in den unterschiedlichsten Perspektiven, Darstellungen, unterschiedlichen Beleuchtungssituation, unterschiedlichen Jahreszeiten zeigen", erklärt er.
"Dann benutzen wir ein sogenanntes tieflernendes neuronales Netzwerk und zeigen diese Bilder aufeinanderfolgend diesem neuronalen Netz und erwarten, dass das Netz entscheiden kann, welche Art da jetzt jeweils präsentiert wurde."
Eine Software, die lernfähig ist
Dabei lernt die Software, das Typische einer Pflanze zu erkennen – unabhängig von Jahreszeit, Ort oder Lichtverhältnissen. Dazu sind viele Fotos nötig, die die Software analysiert. Derzeit verwenden die Forscher rund zwei Millionen verschiedene Bilder von Tausenden Pflanzenarten.
In vielen Durchläufen wird die Software trainiert, um die Trefferquote der aufgenommenen Handyfotos zu verbessern. Nach etwa drei Monaten erkenne das Programm bis zu 85 Prozent der Pflanzen.
Nach Jahren der Entwicklungsarbeit klappe das für eine beeindruckend große Artenvielfalt, sagt Jana Wäldchen: "In Deutschland gibt es mehr als 3000 wild wachsende Blütenpflanzen. In der App haben wir derzeit circa 4800 Arten implementiert. Das sind natürlich auch Arten, die nicht natürlich in Deutschland vorkommen, sondern auch in Parks und Gärten angepflanzt werden."
Dafür braucht die Software vorher immense Bildermengen zum Lernen. Jahrzehntelang erstellte Bildarchive, von Hobby-Botanikern kostenlos zur Verfügung gestellt, bilden die Grundlage. Das Erfassen und Lernen ist aber kein trivialer Prozess und bedarf mitunter noch der menschlichen Expertise und Unterstützung.
Eine zweite App für die Trainingsdatenbank
Um die benötigten Daten zu erhalten, haben die Forscher aus Thüringen eine zweite App entwickelt: Damit können Nutzer Fotos von Pflanzen aus verschiedenen Perspektiven schicken – Biologen bestimmen dann die Art.
So vergrößert sich die Trainingsdatenbank, in der auch der Standort und die Jahreszeit erfasst werden. Eine blühende Rose im Januar in den Alpen würde die App also ausschließen können. Die gewonnenen Daten sind aber mehr als eine Spielerei, um per Smartphone Pflanzen bestimmen zu können.
"Unsere App ist es nicht nur eine reine Bestimmungs-App, sondern wir Biologen arbeiten auch mit den Observationsdaten. Mit der Speicherung der Observation können wir nachvollziehen, wo welche Pflanze wächst", erklärt Jana Wäldchen.
"So können wir langfristig auch Analysen darüber machen, wie sich zum Beispiel Pflanzen verbreiten, wie vielleicht auch Pflanzen zurückgehen oder auch wie Pflanzen auf bestimmte Klimaveränderungen reagieren. Das ist so ein langfristiges Ziel, das wir mit unserer Flora Incognita App auch verfolgen."
Mittelfristig wollen sie die erhobenen Daten weitergeben, an Behörden etwa oder Umweltorganisationen. Neben den Erkenntnissen für die Biologie sieht der Informatiker Patrick Mäder sein Team ebenfalls als Gewinner.
Bis zu 30 Bildanfragen pro Sekunde
"Wir haben aktuell über vier Millionen Installationen dieser Software. Wir haben an starken Sonntagnachmittagen bis zu 370.000 Bestimmungen, 30 Bildanfragen pro Sekunde. Das ist ein unglaublich leistungsfähiges System, das da gefragt ist", sagt der Informatiker.
"Das hat uns extrem weiterentwickelt. Wir haben sehr, sehr viel dabei gelernt. Nicht zuletzt ist auch eine ganze Reihe von Publikationen entstanden. Wir haben neue Methoden entwickelt, wie diese Bilddaten zu prozessieren sind, wie man das effizient macht."
Außerdem ist Mäder Hobby-Botaniker geworden. Knapp 500 Arten hat er mit der App schon bestimmt. Dafür braucht die Biologin Jana Wäldchen keine App – doch auch sie hat von der Zusammenarbeit mit einer anderen Forschungsdisziplin profitiert.
"Also ich habe auf jeden Fall gelernt, mit riesigen Datenmengen umzugehen. Das habe ich vorher nicht so gemacht. Und wir haben wirklich mitbekommen: Auch die Ökologie und die Botanik sind irgendwie im Zeitalter des Big Data angekommen. Das habe ich in den Jahren gelernt", sagt die Biologin.