Pflanzenschutz der Zukunft

Kommt die Landwirtschaft ohne Pestizide aus?

29:54 Minuten
Ein Siebenpunkt-Marienkäfer (Coccinella septempunctata) frisst Blattläuse
Schädlingsbekämpfung ohne Giftstoffe: Ein Siebenpunkt-Marienkäfer frisst Blattläuse. © imago images/Benjamin Horn
Von Anna Goretzki · 25.07.2023
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Ein ökologischer Landbau, der auf chemisch-synthetische Pestizide verzichtet, das gehört zum "agrarischen Leitbild" der Bundesregierung. Dabei können Nützlinge, neue Züchtungen und Robotertechnik helfen. Welche Herausforderungen bringt das mit sich?
„Im Bier und im Honig, auf Obst und Gemüse, im Gras auf Spielplätzen und sogar im Urin und in der Luft – überall lassen sich mittlerweile Spuren von Pestiziden aus der Landwirtschaft nachweisen. Dabei ist die Erkenntnis, dass sich Pestizide negativ auf die menschliche Gesundheit auswirken, keineswegs neu. Auch ist seit Jahren bekannt, dass sie massiv Insekten und Pflanzen schädigen und Gewässer kontaminieren.“
So lauten die einleitenden Worte im „Pestizidatlas 2022“, der gemeinsam von Heinrich-Böll-Stiftung, BUND, vom Pestizid-Aktionsnetzwerk und von Le Monde Diplomatique herausgegeben wurde.
„Wir führen eigentlich, das klingt ein bisschen makaber, einen chemischen Krieg gegen die Natur und zerstören einfach unglaublich viel damit“, sagt der Agrarökologe Johann Zaller, Autor des Buches „Unser täglich Gift - Pestizide, die unterschätzte Gefahr“.
„Das sind Gifte, Fungizide, die Pilze abtöten, Insektizide, die Insekten töten, Herbizide, die Pflanzen töten. Und die Gifte, die wir da ausbringen, die sind nicht so spezifisch, dass dann nur das, was wir als Schaderreger bezeichnen, damit vernichtet wird, sondern das passiert breitflächig.“

Ökologischer Landbau als Leitbild

Für die Bundesregierung ist der ökologische Landbau, der auf Einsatz von chemisch-synthetischen Pestiziden verzichtet, das „agrarische Leitbild“.
„Wir haben uns auch darauf verständigt: 30 Prozent Öko-Landbau bis 2030 - und zwar nicht nur in der Fläche, sondern auch im Supermarktregal. Weniger Pestizide, weniger Dünger und mehr Natur“, sagt Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft Cem Özdemir.
Wie kann das gehen? Wie lassen sich chemisch-synthetische Pestizide in der Landwirtschaft reduzieren? Oder könnte ganz auf sie verzichtet werden? Welche Probleme und Herausforderungen bringt das mit sich? Welche biologisch verträglichere Alternative gibt es? Können Pflanzen auch wirkungsvoll ohne chemisch-synthetische Pestizide vor Schädlingen, Unkräutern, Krankheiten oder Pilzen geschützt werden?
"Wir sagen nicht, dass es einfach ist, auf chemisch-synthetische Pestizide zu verzichten. Im Ackerbau, Obstanbau, im Gemüseanbau. Aber die Praxis zeigt: Es ist möglich. Und hier gibt es einfach ein unglaublich großes Potenzial.“

Parasiten, die ganze Ernten gefährden

Eine Spurensuche.
"Das hier sind die Enkarsien. Die sind winzig, winzig, winzig klein. Hier sieht man ein schönes Blatt, wie die überall sitzen und anfangen, ihre Eier überall hineinzulegen. Jetzt haben sie eben Pech. Jetzt ist die Enkarsie da und legt die Eier rein.“
Weiße Fliege, auch Weiße Gewächshausfliege (Trialeurodes vaporariorum), auf einem Orchideenblatt mit einigen Eiern
Die Weiße Fliege ist verwandt mit Blattläusen und im Gemüsebau ein ungebetener Gast, denn ihre Larven saugen an den Pflanzen.© imago/blickwinkel
Die Gartenbauingenieurin Clara Ottersbach beugt sich im „Parasitierungshaus“ der Katz Biotech AG im brandenburgischen Baruth über eine Tabakpflanze. Die Larven der Weißen Fliege haften auf den Blättern ihrer Wirtspflanze. Die Weiße Fliege ist verwandt mit Blattläusen und im Gemüsebau ein ungebetener Gast, denn ihre Larven saugen an den Pflanzen.
"Das ist natürlich der Primärschaden, der Saugschaden. Wir haben auch noch den Sekundärschaden, der eigentlich fast noch schlimmer ist, das heißt, die produzieren einen Honigtau nach dem Aussaugen. Der Honigtau wird von den Blattläusen abgesondert, tritt auf die Pflanzen und bildet dort einen klebrigen Film und dann können sich da Pilze auf den Film setzen, der eigentlich den größeren Schaden verursacht. Dadurch können ganze Pflanzenteile absterben, gerade zum Beispiel im Tomatenanbau, im Gurkenanbau, bei Paprika ist das ein großes Problem.“
Die Weißen Fliegen können ganze Ernten gefährden. Einer ihrer großen Feinde: die Schlupfwespe Encarsia Formosa. Die Katz Biotech AG hat sich ganz den sogenannten „Nützlingen“ verschrieben, mithilfe derer auf biologische Weise Schädlinge bekämpft werden können - in der Hobbygärtnerei, aber vor allem im kommerziellen Bereich. Nützlinge sind kleine Helfer, tierische Verbündete, die sich der Mensch zunutze macht, um gegen Schädlinge vorzugehen. Also Organismen, die Kulturpflanzen schädigen.

Nützlinge haben große Vorteile

In großen, gewächshausähnlichen Gebäuden züchten sie in Baruth neben der Enkarsie auch andere Schlupfwespen, verschiedene Raubmilben, den Siebenpunkt-Marienkäfer oder beispielsweise Fadenwürmer.
„Nützlinge haben den großen Vorteil, dass es natürlich einmal für denjenigen, der die Nützlinge ausbringt, absolut ungefährlich ist, das heißt keine Giftstoffe, man braucht keine Schutzkleidung. Man hat keine Wartezeiten auf den Produkten, das heißt, die können direkt weiter in den Handel gegeben werden. Man muss nicht – bei vielen Produkten muss man drei Wochen warten, bis die Chemie sich etwas abgebaut hat.“
Dr. Peter Katz, Clara Ottersbachs Chef, hat in Agrarwissenschaften zum Thema Nützlinge promoviert, sich gegen eine Karriere im Bereich der chemischen Industrie entschieden. Mit der Idee, Nützlinge zur Bekämpfung von Schädlingspopulationen zu züchten, hat er sich selbständig gemacht.
„Das war vor 30 Jahren circa. Und inzwischen hat dieser Bereich eine größere Bedeutung bekommen, sodass wir recht erfolgreich sind. Natürlich immer der Ansatz, die Auswirkungen von Pflanzenschutz auf den Naturhaushalt zu reduzieren, und da ist eine Möglichkeit: Nützlinge einzusetzen.“

Steigende Nachfrage nach Nützlingen

17 verschiedene Nützlinge vermehren und vertreiben sie. Seine Nützlinge bieten Schädlingen vor allem im geschützten Anbau die Stirn. Also dort, wo Gemüse und Obst in Gewächshäusern unter Glas oder Folie gedeiht.
„Also im Tomatenanbau: 90 Prozent der Flächen werden mit Nützlingen belegt, das ist Standard. Da gibt es wahrscheinlich keine Steigerungsmöglichkeiten mehr.“
Seit Jahren verzeichnet Katz eine kontinuierlich steigende Nachfrage nach seinen Enkarsien und Co. Immer mehr Menschen wünschen sich ökologisch angebaute Lebensmittel. Dabei sind es zu 95 Prozent sogenannte „konventionelle“ Betriebe, die bei der Katz Biotech AG Nützlinge bestellen.
„In einem modernen Tomatengewächshaus wird sieben Tage in der Woche gearbeitet, geerntet. Wenn dann Pflanzenschutzmaßnahmen, eine chemische stattfindet, wird der ganze Prozess unterbrochen. Und das gibt natürlich Probleme von der arbeitsökonomischen Seite. Und zum Schluss ist es auch so, dass immer mehr Pflanzenschutzmittel nicht mehr wirksam sind, weil Resistenzen sich bilden.“
Also wenn Schädlinge, Unkräuter oder Pilze unempfindlich gegen Pestizide werden. Wenn Herbizide, Fungizide oder Insektizide nicht mehr wirken. Eine der großen Herausforderungen beim Einsatz von chemisch-synthetischen Pestiziden.
Apfelzüchter Andreas Peil auf den Plantagen des Instituts für Züchtungsforschung von Obst - Julius-Kühn-Institut - in Dresden-Pillnitz
Züchter von Kernobst: Andreas Peil auf den Plantagen des Julius-Kühn-Instituts in Dresden-Pillnitz.© Anna Marie Goretzki
Am Julius-Kühn-Institut, dem Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen, genauer am Züchtungsinstitut in Dresden-Pillnitz, arbeitet Andreas Peil als Züchter von Kernobst.
„Das heißt, ich züchte neue Sorten bei Apfel und Birne, die für nachhaltigen und umweltschonenden Anbau oder in der Produktion geeignet sind. Das sind Sorten, die möglichst wenig synthetischen Pflanzenschutz benötigen, die mit geringen Ressourcen anzubauen und zu produzieren sind und die trotzdem eine gute, überzeugende Qualität liefern.“

Die meisten Pestizide im Apfelanbau

Äpfel und Birnen wachsen im kommerziellen Obstanbau auf Plantagen. Rund 20 Jahre oder sogar länger stehen sie also auf der gleichen Stelle. Beim Anbau von Gemüse kann die Fruchtfolge dazu beitragen, Pflanzen gesund und kräftig zu halten. Bestimmte Pflanzengruppen bewachsen also nach einem Rotationsprinzip eine Beet- oder Ackerfläche. Mit Bäumen wie Apfel oder Birne geht das nicht. Das macht sie anfälliger für Krankheiten wie Apfelschorf, Mehltau oder Feuerbrand. Pflanzenschutz kann das verhindern. Daten des Julius-Kühn-Institut zeigen: In Deutschland werden die meisten Pestizide im Apfelanbau eingesetzt. 
Züchtungsforscher Andreas Peil versucht, mithilfe von Genen den Apfelpflanzen Widerstandskraft gegen Krankheiten verleihen. Er ist unterwegs in einem Gewächshaus, in dem er gegen Apfelschorf resistente Sorten züchtet. Peil lässt einen Rollladen hoch, der eine Glaskabine abschirmt. Apfelschorf mag es nämlich feucht und dunkel.
„Wenn Sie jetzt mal schauen, sehen Sie hier, so ein bisschen grauen Belag, das ist ein bisschen gräulich, das ist Apfelschorf. Hier Apfelschorf! Hier wunderbarer Apfelschorf!“
Apfelschorf zeigt sich an den gräulich gefärbten Blattstrukturen.
Apfelschorf zeigt sich an den gräulich gefärbten Blattstrukturen.© Anna Marie Goretzki
Ein Grund zur Freude für Andreas Peil. Denn er persönlich hat vor vier Wochen die Krankheitserreger aufgebracht - sie „inokuliert“. Jetzt kann er die gesund gebliebenen Pflanzen identifizieren, also jene, die scheinbar widerstandsfähig gegen Apfelschorf sind. Mit diesen Pflanzen führt er dann die Züchtung weiter. Die befallenen Pflanzen sondert er aus.
„Das nennen wir dann Pyramiden von Resistenzgenen, um eine dauerhaftere Resistenz zu erzielen. Und das machen wir für Schorf und für Mehltau und auch für Feuerbrand.“

Begriff der Resistenzzüchtung irreführend

Es vergeht mindestens ein Jahrzehnt bis sich zeigt, ob sich die Resistenzzüchtungen von Peil bewährt haben. Der Begriff sei aber irreführend, meint er. „Auch eine Sorte, die ein Resistenzgen hat, kann die Krankheit kriegen. Wenn es Erreger gibt, die in der Lage sind, dieses Widerstandsfähigkeitsgen zu brechen. Wenn man das deutsche Wort benutzt ‚widerstandsfähig‘, dann heißt das, der ist in der Lage, Widerstand zu leisten.“
Auch deswegen ließe sich beim Anbau von Dauerkulturen wie Birnen und Äpfeln auf Pflanzenschutz nicht verzichten.
„Wenn ich eine Sorte habe, die widerstandsfähig gegen Schorf und Mehltau ist, und ich wende keine Pflanzenschutzmittel - das müssen ja keine synthetischen, das können ja auch andere sein - an, dann können sogenannte Sekundärkrankheiten hochkommen. Das sind diese Fliegenschmutzkrankheit, das sind die Rußflecken, die dann kommen können, das ist die Blattfallkrankheit bei Äpfeln, Jonathan-Spot oder Topaz-Spot. Das sind sekundäre Erreger, die eigentlich durch die Pflanzenschutzmittel, die man gegen Schorf und Mehltau einsetzt, mit erledigt werden. Aber ich glaube nicht, dass eine Apfelproduktion über 20 Jahre am selben Standort ohne Pflanzenschutzmittel wirklich auskommen kann.“

Dreijähriges Umstellen auf ökologische Richtlinien

„Ich schließe mal auf, dann können wir ein bisschen durchlaufen. Da ist es ganz schön.“ Anke Wollanik führt über das Obstgut Franz Müller, eine Autostunde nordöstlich von Berlin gelegen, das sie gemeinsam mit ihrer Tochter leitet. Seit 30 Jahren gibt es den Familienbetrieb. Hier bauen sie auf 25 Hektar Pflaumen, Birnen und Äpfel an. In Direktvermarktung verkaufen sie das Obst an ihre Kund:innen. Anke Wollanik und ihre Tochter stellen den Betrieb gerade auf Bio um, also sie produzieren nach ökologischen Richtlinien.
„Wir haben ganz normalen konventionellen Anbau betrieben und mit chemischen Pflanzenschutzmitteln gearbeitet. Im Laufe der Jahre haben wir uns sehr mit dem ökologischen Anbau beschäftigt, und in uns ist über viele Jahre, meiner Tochter und mir, so dieser Entschluss gereift, dass das zu uns, zu unserem Arbeiten einfach passt, und deshalb haben wir uns zur Umstellung entschlossen.“
Zur nächsten Ernte im Herbst ist die dreijährige Umstellungsphase abgeschlossen. Dann dürfen sie ihr Obst als „bio“ ausweisen. Schon seit Beginn der Umstellung müssen sie sich an die ökologischen Richtlinien ihres Zertifizierers, Naturland, halten. Darin steht für den Umgang mit Schädlingen, Krankheiten und Unkräutern.
„Zum Erzielen gesunder Pflanzenbestände stehen vorbeugende Maßnahmen, wie eine angepasste Fruchtfolge, die Bodenbearbeitung, die Humuswirtschaft und Düngung, die Wahl geeigneter Bestandsdichten sowie die Auswahl gesunden und widerstandsfähigen Pflanz- und Saatguts eindeutig im Vordergrund. In Gewächshäusern haben optimale Klimaführung und der Nützlingseinsatz einen besonderen Stellenwert. Der Einsatz von chemisch-synthetischen Mitteln ist verboten.“

Kupferpräparate gegen Apfelschorf

Auf dem Obstgut Müller entfernen sie Unkraut mechanisch, gegen Apfelschorf setzen sie Kupfer- und Schwefelpräparate ein.
„Wo ich der Meinung bin, dass es ohne Kupferanwendung nicht funktioniert“, sagt Anke Wollanik.
„Das stimmt schon, dass auch im Öko-Anbau Pflanzenschutzmittel eingesetzt werden müssen. Also dass man einfach die Bäume oder die Früchte pflanzt und einfach nur zuschaut und dann erntet, das funktioniert nicht, das ist schon klar“, sagt der Agrarökologe Johann Zaller.
„Kupfer ist das Mittel, was wir gegen Schorf und gegen Obstbaumkrebs einsetzen können. Es gibt eine ganze strenge Begrenzung bei allen Mitteln“, so Anke Wollanik.
„Kupfer ist ein Schwermetall, reichert sich im Boden an und kann das Bodenleben schädigen. Es gibt aber Studien dazu, wo in Deutschland ganz viele Standorte untersucht wurden, und da hat man zum Beispiel keine signifikanten Einflüsse auf die Regenwurmaktivität zum Beispiel gesehen, auch weil man in den letzten Jahrzehnten den Einsatz von Kupfer extrem stark reduziert hat. Man hat bessere Applikationstechnik, dass man wirklich das Produkt besser auf den Zielorganismus bringt und nicht einfach frei in der Gegend herum sprüht. Aber ja, auch die Mittel, die im Biolandbau eingesetzt werden, sind nicht alle harmlos. Aber: Kein einziges der im Biolandbau eingesetzten Mittel ist krebserregend, hormonell wirksam, Reproduktion schädigend, gentoxisch – im Gegensatz zu den synthetischen Pestiziden“, erklärt Johann Zaller.
„Und dann werden auch biologische Insektizide eingesetzt. Sparsam und in Beratung und Absprache und auf den Punkt, aber auch die gibt es, weil es gibt den Apfelwickler, den Apfelblütenstecher, die Apfelsägewespe. Und das sind Schädlinge und Schaderreger, die wir ohne nicht bekämpfen können“, wiederum Anke Wollanik.

Auf Insektizide zu verzichten, ist schwierig

„Bei Insekten sind wir leider noch nicht so weit“, sagt Apfelzüchter Andreas Peil. „Die Züchtung auf Widerstandsfähigkeit gegen Insekten ist deutlich schwieriger. Von den Insektiziden werden wir erstmal nicht ganz runterkommen.
Aber man könne bei manchen Insekten Lockstoffe einsetzen, bei anderen Verwirrstoffe, so dass ein Insekt wie beispielsweise der Apfelwickler keinen Nachwuchs mehr erzeugen kann. Das wäre dann eine rein biologische Bekämpfung. 
Bio-Landwirt Martin Oberreich (l.) und sein Umstellungsberater Paul Schlegel von Bioland
Auf den Feldern des Biohofs Wiesengrün: Bio-Landwirt Martin Oberreich (l.) und sein Umstellungsberater Paul Schlegel.© Anna Marie Goretzki
Martin Oberreich und Paul Schlegel sind auf den Feldern des Biohofs Wiesengrün rund um den kleinen Ort Schmirma in Sachsen-Anhalt unterwegs. Martin Oberreich ist Landwirt in Umstellung. Paul Schlegel vom Anbauverband Bioland ist Ackerbauexperte und Oberreichs Umstellungsberater. Er begleitet ihn auf seinem Weg zum Bio-Bauern. Auf 150 Hektar baut Oberreich Gerste, Dinkel, Sonnenblumen, Back- und Futterweizen an. Luzerne wächst auf seinen Feldern als Zwischenfrucht. Sie ist ein essenzielles Glied in der Fruchtfolge. Eine sorgsam geplante Fruchtfolge ist im Bio-Gemüse- und Ackerbau wesentlich, um Schädlingen, Pflanzenkrankheiten und Unkräutern vorzubeugen.
„Man sollte gewisse Pflanzenfamilien nicht hintereinander anbauen, weil sich die Pathogene, also zum Beispiel die Pilze, von der einen Frucht auf die andere mit den Ernteresten übertragen können“, erklärt Umstellungsberater Paul Schlegel.
„Also ein Beispiel: Man baut Winterweizen an und würde danach gleich wieder einen Winterroggen anbauen, dann würde der Winterweizen geerntet, die Pilze hängen an dem Stroh, aber wenn ich in die noch nicht 100 Prozent abgebauten Erntereste einen Roggen bestelle, dann können diese Pilze auch gleich wieder auf die neuen Pflänzchen aufspringen, möcht ich’s mal nennen, und sich dort schon wieder infizieren. Und wenn ich dort erst einmal eine Pflanze anbaue, beispielsweise eine Erbse, die kein Süßgras ist und damit nicht verwandt, dann hat das Pathogen es viel, viel schwieriger, eine Generation weiterzukommen.“

Effizienter gegen Unkräuter vorgehen

Die beiden stehen am Rand von Oberreichs Feld und lassen den Blick über die Sonnenblumen schweifen.
„Wie ist das? Hast du hier auch gestriegelt? – „Ich habe hier auch gestriegelt.“ – “Ein Mal? Zwei Mal?“ – „Ein Mal.“
Unkräutern oder Beikräutern, wie er sie nennt, kommt der Landwirt mechanisch bei. Je nach Kulturpflanze und Wachstumsphase werden sie gehackt oder gestriegelt.
„Bei mechanischen Verfahren, wie bei Striegel und Hacken, geht es um das Verschütten von Unkräutern oder das Herausreißen, Abschneiden, also das sind relativ banale Methoden, aber ich kann die bei neuer Technik wesentlich effizienter einsetzten.“

Ein Beispiel für einen Hof, der regenerative Landwirtschaft komplett ohne chemisch-synthetische Pestizide betreibt, ist auch „Wilmars Gaerten“ in Märkisch Wilmersdorf in Brandenburg. Eine ihrer Ackerbaumethoden seien sogenannte Agroforstsysteme, erklärt Geschäftsführerin Maria Giménez . Dafür hätten sie knapp 200.000 Bäume gepflanzt.

Zudem wachse Getreide oder Mais dort nicht als Monokultur, sondern man habe auch den Ertrag von Obst- und Nussbäumen, Beerensträuchern oder Kräutern. Und Tiere, die zwischen den Bäumen weiden, bereiteten den Boden für beispielsweise das Getreide vor.

Arnd Verschwele forscht seit über 30 Jahren am Institut für Pflanzenschutz in Ackerbau und Grünland des Julius-Kühn-Instituts zu Unkräutern und deren Bekämpfung.
„Das funktioniert mit Kamerasystemen, die die Pflanzen erkennen, und wenn es sehr gut läuft, die Unkräuter unterscheiden können von der Kulturpflanze und nur die Pflanzen dann behandeln. Und dadurch bin ich wesentlich effizienter und eben auch kulturschonender und auch schonender in Bezug auf Umwelt, Energieverbrauch und so weiter.“ 

Beikräuter können problematisch sein

Wenn Landwirt:innen ganz auf chemisch-synthetische Pestizide verzichten wollen, stünden ihnen nur mechanische Verfahren zur Verfügung. Verschwele nennt auch thermische Unkrautbekämpfungsverfahren. Also Abflammen oder Behandlung mit heißem Wasser. Beikräuter können deshalb problematisch sein, weil sie Gerste und Co. Nährstoffe, Wasser und/oder Licht nehmen. Wächst sehr viel Unkraut im Feld, kann es Schwierigkeiten bei der Ernte geben. Im schlimmsten Fall aber verdrängen Unkräuter die Hauptkultur ganz.
Trotz der mechanischen Unkrautbekämpfung wachsen in Oberreichs Feldern auch nicht geladene Gäste wie Distel und Ackerwinde. Der Landwirt sieht das aber gelassen.
„Es ist ja auch völlig ok, wenn da noch was anderes als Gerste drin wächst. Es ist keine Industriefläche, sondern es ist quasi ein lebender Boden, wo auch andere Pflanzen drin zuhause sind. Und das ist meiner Meinung nach auch völlig vertretbar.“

Wirkungsarme Herbizide

Arnd Verschwele stimmt ihm da zu. Solange die Verunkrautung nicht überhandnähme. Davor sei aber auch ein Betrieb nicht gefeit, der chemisch-synthetische Herbizide einsetzt, so der Unkrautforscher.
„Unkräuter sind angepasst, und die finden ihre Nischen. Und wenn ich das Anbauverfahren zu einseitig führe, dann pushe ich bestimmte Unkrautarten, und wenn dann noch solche Probleme wie Resistenzen dazu kommen bei hohen Unkrautvorkommen, dann wirkt das Herbizid überhaupt nicht mehr, und dann ist der Druck wirklich, wirklich groß.“
Immer öfter seien Herbizide wirkungsarm oder sogar wirkungslos. Und dann würden auch konventionelle Betriebe zunehmend auf vorbeugende Maßnahmen setzen wie zum Beispiel Fruchtfolge, den Wechsel zwischen Winter- und Sommerfrucht. Arnd Verschwele findet das gut.
„Das sieht man auch in der Forschung, dass eigentlich so alte Methoden wieder erprobt werden. Das muss man auch machen. Man muss auch schauen, ob die alten Weisheiten immer noch gelten.“

Präventiv wirksam werden

„Ökolandbau bedeutet, auf dem Acker präventiv wirksam zu werden und nicht nur erst kurativ, erklärt Paul Schlegel dazu.“
Ein Allheilmittel sei der Ökolandbau aber nicht, meint Frank Gemmer. Nur mithilfe chemisch-synthetischer Pestizide ließen sich ausreichend Nahrungsmittel für die wachsende Weltbevölkerung produzieren. Gemmer ist Hauptgeschäftsführer vom Industrieverband Agrar, des Mitgliedsverbands der in Deutschland ansässigen agrochemischen Industrieunternehmen, zu denen auch Pflanzenschutzmittelhersteller zählen.
„Im Grunde ist im Ökolandbau der Ertrag im Schnitt ein Drittel geringer. Das differiert von Kultur zu Kultur. Aber im Schnitt kann man sagen: ein Drittel geringer“, erklärt er über Zoom. „Das bedeutet, wenn ich die gleiche Menge an Nahrungsmitteln produzieren möchte, muss ich 50 Prozent mehr Fläche in die Bewirtschaftung nehmen. Und das finden wir extrem kritisch, weil das bedeuten würden, wir müssen zusätzliche Flächen, ob in Deutschland oder auch in anderen Teilen der Welt, in Ackerland umwandeln und damit dann auch letztendlich Biodiversität sogar verlieren.“

Einfluss auf Biodiversität

„Dieses Argument kommt ja immer wieder, es greift ein bisschen zu kurz, ehrlich gesagt. Wir wissen, dass es Ernteeinbußen gibt im ökologischen Landbau oder in Systemen, wo keine Pestizide, keine synthetischen Pestizide, eingesetzt werden. Aber dafür gibt es auch keine Belastung des Grundwassers mit diesen gesundheitsgefährdenden Stoffen. Die Biodiversität sieht besser aus, wo keine Pestizide eingesetzt werden, und diese ökologisch bewirtschafteten Felder sind auch klimafitter und somit zukunftsfitter, weil ein höherer Humusgehalt meistens im Boden ist und weil das Bodenleben gesünder ist.“
Und - so Zaller - die wachsende Weltbevölkerung ließe sich sehr wohl ohne Zuhilfenahme chemisch-synthetischer Pestizide ernähren.
„Wenn wir uns jetzt mal anschauen, was auf den Feldern produziert wird, dann sehen wir, dass in Deutschland, in Österreich, generell in Europa, circa die Hälfte der Agrarfläche für den Trog und für den Tank produziert. Das heißt, es werden nicht Lebensmittel produziert auf unseren Ackerflächen, sondern es werden Futtermittel produziert, die dann für die Tiermast verwendet werden, beziehungsweise es wird Biosprit produziert. Das heißt, es ist nicht so, dass wir unbedingt diese Pestizide brauchen, um unsere Ernährung zu sichern.“

Auswirkungen fleischlastiger Ernährung

Johann Zaller argumentiert: Wenn Verbraucher:innen ihre Ernährung umstellen, würde das auch zu weniger Pestizideinsatz führen können oder chemisch-synthetische Pestizide sogar überflüssig machen. 
„Wir müssen weg von der fleischlastigen Ernährung. Wenn wir das runterfahren würden und mehr vegetarische Nahrung zu uns nehmen würden, dann würden wir auch weniger Tierfutter produzieren auf unseren Feldern. Und dann bliebe auch einfach mehr Land für die Produktion von wirklichen Lebensmitteln, von Gemüse.“
Folgt man diesen Argumenten, beeinflusst nicht nur die Entscheidung von Landwirt:innen, wie sie ihr Obst, Gemüse oder Getreide schützen, sondern auch die Entscheidung von Verbraucher:innern den Aufwand von chemisch-synthetischen Pestiziden in der Landwirtschaft. Und zwar nicht nur die gegen eine fleischlastige Ernährung, für die viel Ackerfläche nötig ist, sondern auch eine gegen Lebensmittelverschwendung.
Die Agraringenieurin Susan Haffmans vom Pestizid-Aktions-Netzwerk Deutschland teilt diese Haltung.
„Man könnte die besonders problematischen, besonders umweltgefährlichen oder besonders gesundheitsgefährlichen Pestizide hoch besteuern, so dass allein aus ökonomischen Anreiz schon die weniger Gefährlicheren genutzt werden. Und dieses Geld, was daraus generiert wird, aus dieser Abgabe, kann zielgerichtet eingesetzt werden. Damit können dann wirklich Betriebe unterstützt werden bei der Aufgabe, Pestizidreduktion zu betreiben.“
Autonome Jätmaschine, die mithilfe von Laser Unkraut bekämpft, auf einem Feld
Neueste Technik einsetzen: Autonome Jätmaschine, die mithilfe von Laser Unkraut bekämpft.© IMAGO/Cover-Images
„Wir wollen die Verwendung von Pestiziden bis 2030 halbieren.“ Dr. Ophelia Nick ist die Parlamentarische Staatssekretärin vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. „Und dafür soll der sogenannte Nationale Aktionsplan Pflanzenschutz weiterentwickelt werden. Und es geht bei dem darum, alternative Pflanzenschutzverfahren zu entwickeln.“
Die Bundesregierung will zur Minimierung von chemisch-synthetischen Pestiziden beitragen. Dabei setzt sie auch auf neueste Technik.
„Wir brauchen den Pflanzenschutz, um Ernten und Erträge zu sichern, aber der kann eben auch nachhaltig sein und der kann ohne Pestizide auskommen. Da gibt es zum Beispiel tolle Roboter, die KI-gestützt dann eben mechanisch mit Hitze, Laser oder Strom Unkräuter bekämpfen können. Und damit schützen wir dann eben auch das Artenreichtum. Unser Ziel ist ganz klar: 30 Prozent Ökolandbau bis 2030.“
„Und das ist sehr ambitioniert. Wenn Sie das erreichen wollen, dann heißt es auch, dass Sie 30 Prozent investieren müssen. 30 Prozent mehr Forschung auf dem Gebiet. Es ist auch ganz wichtig, dass das Thema stärker verankert wird in den Studiencurriculae oder in den Lehrplänen der Landwirtschaftsschulen. Wir müssen auch die Offizialberatung, das heißt die Beratung, die von den Pflanzenschutzdiensten gemacht wird, entsprechend der neuen Ausrichtung auch ausrichten. Da müssen Berater sein, die Lust drauf haben, zu beraten und sich auskennen in dem Bereich nicht-chemischer Pflanzenschutz.“

Gesetzliche Reglementierung wird zunehmen

Die gesetzliche Reglementierung von chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln wird zunehmen. Zu sehr ist der bisherige Einsatz schon auf Kosten der Natur gegangen. Insekten sterben durch Pestizide, sie belasten Gewässer, Lebensmittel und damit auch uns Menschen. Um chemisch-synthetische Pestizide zu reduzieren oder gar abzuschaffen, wäre eine Vielzahl an Veränderungen notwendig.
Peter Katz, der Züchter von Nützlingen, hofft, dass sich dabei keine ideologischen Fronten verhärten zwischen Bio und Konventionell, sondern gemeinsam am großen Ziel Pestizidreduktion gearbeitet wird.
„Man sollte bewerten: Wie wirkt sich welche Maßnahme aus. Was für Kosten für den Produzenten, für den Verbraucher, für die Gesellschaft hat dieser Pflanzenschutz. Und basierend auf dem sollen Pflanzenschutzsysteme entwickelt werden, die sinnvoll sind. Das heißt für mich grundsätzlich auch: nicht unbedingt alles Bio, sondern dort den chemischen Pflanzenschutz soweit reduzieren, soweit es geht."

Unterschiedliche Zukunftsvorstellungen

Die Vorstellungen von einer Landwirtschaft der Zukunft sehen ganz unterschiedlich aus - je nachdem, wen man fragt. Weniger Einsatz chemisch-synthetischer Pestizide aber spielt in allen Zukunftsszenarien eine Rolle - hier eine größere, dort eine kleinere.
„Nachhaltig wirtschaften, moderne Technologie einsetzen, Innovationen entwickeln wie biologischen Pflanzenschutz wie Biostimulanzien, precision farming nutzen, um die Einträge weiter zu reduzieren und nicht mehr Fläche zu verbrauchen, um die Ernährungssicherheit sicher zu stellen“, sagt Frank Gemmer vom Industrieverband Agrar.
Der Agrarökologe Johann Zaller: „Das sähe so aus, dass wir nicht nur die synthetischen Pestizide durch biologische Pestizide ersetzen oder biologische Pflanzenschutzmittel ersetzen, sondern dass wir die gesamten Agrarsysteme umbauen. Ich finde, wir sollten auf alle Fälle mehr Diversität in die Landschaft wieder bringen, mehr Vielfalt in die Landschaft bringen. Also meine große Hoffnung ist, da bin ich schon ein bisschen naiv vielleicht auch, dass diese jetzige Energiekrise und diese ganze Debatte um die fossile Energie, uns zum Umdenken bringt und dass die wirklich uns einen Schub gibt hin zu einem Paradigmenwechsel.“
Das große Ganze betrachten - das halten viele, die sich mit landwirtschaftlichen Fragen und dem Einsatz von Pestiziden beschäftigen, für wichtig. Nicht nur die Einheit Acker, Beet oder Plantage. Mit diesem Blick ließen sich die richtigen Rückschlüsse für den Einsatz von chemisch-synthetischen Pestiziden ableiten.

Redaktion: Carsten Burtke
Regie: Oliver Martin
Technik: Jan Fraune
Sprecherin: Lisa Hrdina
Sprecher: Timo Weisschnur

Diese Sendung wurde zuerst am 19.07.2022 ausgestrahlt.
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