Kann man über Sport- und Bewegungsangebote berichten, die es nicht gibt? Obwohl die Nachfrage groß wäre, gar in die Millionen geht. Und jeden Tag weiterwächst.
Bewegungsprogramme, die pflegebedürftigen Menschen zu Hause Gesundheit, Lebensfreude, Selbständigkeit und Würde schenken würden. Die Angehörige entlasten und sogar Kosten sparen.
Im Seniorenheim ist die Sterberate höher
Was sind die Gründe, warum sich solche Angebote in Deutschland bislang nicht durchsetzen konnten?
Vorbehalte gegen Pflege im Heim und für mehr Pflege zu Hause sind also durchaus berechtigt. Eine Studie, die die Lebensdauer im Altenheim und zuhause miteinander verglichen hatte, ergab: Im Seniorenheim ist die Mortalität, also die Sterberate, deutlich höher.
Warum aber wird dann die Pflege zu Jause nicht stärker mit gesundheitsfördernden Maßnahmen wie Bewegung unter Anleitung eines Trainers oder Physiotherapeuten unterstützt? Schließlich kostet ein Platz im Heim im Schnitt 5.600 Euro im Monat. Davon übernimmt die Pflegekasse höchstens knapp 2.400 Euro.
Den Rest müssen die zu Pflegenden oder deren Angehörige also selbst aufbringen. Pflege zu Hause käme also für viele Betroffene nicht nur billiger. Es würde auch die Sozialämter entlasten, die immer häufiger einspringen müssen, wenn die zu Pflegenden den hohen Kostenanteil nicht bezahlen können.
Angebote für zu Hause gibt es nur vereinzelt
Vereinzelt gibt es solche Bewegungsangebote, die allerdings kaum bekannt sind, und mit denen derzeit nur ein Bruchteil der zu Pflegenden zu Hause erreicht wird.
Physiotherapeutin Lena Weidinger macht an diesem Montagmorgen gerade ihren ersten Hausbesuch beim Ehepaar Denninger. Das Sprechen fällt Hans-Dieter Denninger noch schwer. Neben den Folgen eines Schlaganfalls leidet er unter Herzproblemen, ein Nierenstein wurde entfernt. Hinzu kam eine bakterielle Infektion.
Nach einem sechsmonatigen Krankenhausaufenthalt und stationärer Rehabilitationsmaßnahme mit leichter Bewegungstherapie wäre Herr Denninger eigentlich ein Dauerpflegefall und reif fürs Altenheim gewesen. Eigentlich! Erinnert sich seine Ehefrau Doris, während ihr Mann mit Lena Weidinger fleißig sein Bewegungsprogramm absolviert.
„Es war grauenhaft. Jetzt ist er acht Wochen wieder zu Hause am Stück und es wird zusehends besser. Er kann schon aufstehen, isst am Tisch, auf der Bettkante und Mittag und Abend gehen wir im Rollstuhl auf den Balkon. Ich bin einfach glücklich, dass es so ist. Es gibt ja auch viele alleinstehende Leute. Da kümmert sich kein Mensch drum.“
Lena Weidinger arbeitet für die geriatrische sprich altersmedizinische Abteilung der Regiomed-Kliniken in Coburg, die für Pflegebedürftige mobile Reha zu Hause anbietet. Abgerechnet werden die Stunden über eine Krankenkassenverordnung für sogenannten geriatrischen Rehasport.
Rehasport zu Hause für nur wenige Pflegebedürftige
Der Haken dabei: Geriatrischer Rehasport ist zeitlich begrenzt. Und: Anspruch auf Rehasport zu Hause hat bislang nur ein sehr enger Kreis von Pflegebedürftigen. In der Regel muss der Verordnung ein Krankenhausaufenthalt und eine Operation vorausgegangen sein.
Hinzu kommt: Geriatrischer Rehasport wird nur bei spezifischen, altersbedingten Symptomen bewilligt. Menschen „nur“ mit Pflegebedarf, mit rein orthopädischen Erkrankungen wie Arthrose und Arthritis oder Lungenproblemen haben bislang keinen Anspruch. Obwohl doch gerade Erkrankungen des Bewegungsapparates auch im Alter dramatisch zunehmen.
Professor Hermann Brandenburg, Pflegewissenschaftler und Gerontologe an der Universität Witten-Heredecke:
Wir müssen die Reha im Alter als Prozess denken, der nicht begrenzt auf 10, 20 oder 50 Stunden ist. Sondern der immer wieder intermittierend schaut, was sind die Bedarfe der Personen? Dass wir die Trennung von Reha und Pflege aufgeben. Diese Trennung ist falsch! Ich glaube nicht, dass das mit den Vorgaben gelingen wird, vor allen Dingen nicht mit dem Aspekt der Prävention. Das wäre ein Element, was aus meiner Sicht sehr stark gemacht werden muss, weil wir ja nicht nur Sorge dafür tragen müssen, dass wir die Versorgung im engeren Sinne sicherstellen. Ich würde mir wünschen, dass wir diesen Aspekt der Rehabilitation systematisch implementieren, auch durch eine systematische Förderung interprofessioneller Kooperation in Teams.
Pflegewissenschaftler Hermann Brandenburg
Drei Monate lang wird Herr Denninger intensiv von Lena Weidinger betreut. Dann läuft die Verordnung für den geriatrischen Rehasport aus. Eine Verlängerung ist rein theoretisch zwar möglich, wenn die Krankenkasse mitspielt. Das muss aber von Frau Denninger neu beantragt und von der Kasse bewilligt werden.
Pflegende Angehörige haben keine Lobby
Viel zu kurz sei das und viel Aufwand für die Angehörigen, findet Brigitte Bührlen. Die Vorsitzende der Stiftung „Wir! Pflegende Angehörige“ sitzt an ihrem Schreibtisch und studiert den ersten Entwurf der von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach angekündigten Pflegereform.
Außer, dass es geringfügig mehr Geld für die von Angehörigen geleistete Pflege geben solle, ändere sich offenbar nichts. Von Rehasport zu Hause ganz zu schweigen, resümiert Brigitte Bührlen bitter, die seit über 20 Jahren für mehr Rechte kämpft.
Schließlich würden Sport und Bewegung zu Hause auch die Angehörigen entlasten - dabei mitzumachen ist übrigens erwünscht. Die zu Pflegenden wären dank Mobilitäts- und Kraft- und Gleichgewichtstraining selbständiger, lebensfreudiger und im Alltag weniger abhängig von fremder Hilfe.
Wir leisten eigentlich die gesamte Grundpflege in Deutschland, die Grundversorgung, 24 Stunden, 365 Tage im Jahr. Dann müssen wir doch auch Rechte haben! Wir müssen auch einen Status haben! Wo gehe ich denn hin, um zu sagen, dass ich dies, das und jenes nicht gut finde. Wir haben nie eine Lobby gebildet. Auch die, die sich kümmern, machen das in jedem Alter. Wir sind die tragende Säule der Pflege.
Brigitte Bührlen, Vorsitzende der Stiftung „Wir! Pflegende Angehörige“
Mobile Rehatherapie der Regiomed-Klinik Coburg
Das Ärzte- und Therapeutenteam der Regiomed-Klinik in Coburg versucht daher seit gut zehn Jahren mit der passgenauen mobilen Rehatherapie auch die Angehörigen so weit wie möglich zu entlasten. Erklären Oberärztin Marion Pflug und Professor Johannes Kraft, Leiter des Zentrums für Altersmedizin.
Marion Pflug: „Unser erster Patient ist ein Patient mit einer Mobilitätseinbuße, einer Gangunsicherheit, bekannt ist auch eine Herzinsuffizienz. Er war handwerklich tätig und hat sehr lange Fußball gespielt. Als Zielsetzung möchte der Patient gerne wieder körperlich belastbarer werden. Sein größtes Problem ist es, die häuslichen Treppen zu bewältigen, auch der Ein- und Ausstieg beim Pkw. Die Ehefrau möchte das auch wieder schaffen, also auch Angehörigenanleitung.“
Johannes Kraft: „Mobile Rehabilitation ist wie ein Baustein, der überall flächendeckend als Chance angeboten werden soll. Wir sind auch in der Ausbildung und Weiterbildung intensiv dabei. Gerade habe ich wieder eine Pflegeschülerin, die heute neu gekommen ist, bei uns begrüßt. Die sind so idealistisch und positiv und suchen den Beruf, weil sie Menschen helfen wollen. Die mobile Rehabilitation hat für die Patienten einen ganz hohen Sinn. Die Selbstwirksamkeit ist sehr hoch.“
Bewegung zu Hause vermeidet Heimeinweisungen
Unterdessen ist Therapeutin Lena Weidinger auf dem Weg zum nächsten Patienten. Das Ehepaar Schäfer kämpft gegen eine fortschreitende Demenz bei Herrn Schäfer und Atembeschwerden.
„Das ist auch sein Ziel, dass er das Haus wieder verlassen kann, um einfach selbständiger zu werden. Ich habe hier ein Airex-Kissen mitgebracht. Der Patient hat auch Gleichgewichtsschwierigkeiten, das wollen wir jetzt vorrangig trainieren. Wir haben hier ein Hanggrundstück mit vielen Stufen, die wir gerade hinaufsteigen. Ein Ziel des Patienten ist, dass er die Treppen wieder selbständig bewältigen kann.“
Herr Schäfer kam nämlich gerade erst aus dem Krankenhaus. Zunächst steht etwas Neurosport, also Gedächtnistraining mit bunten Klötzchen, auf dem Programm. Anschließend raus aus dem Sessel und an die Treppe, die zum Garten führt. Mit wachsender Freude beobachtet Ehefrau Annelore Schäfer die Trainingserfolge ihres Mannes.
„Den Mann ins Heim zu stecken, kommt für uns eigentlich nicht in Frage. Dafür ist dann ja die Reha da, die hilft sehr. Warum soll er denn ins Heim? Solange ich es machen kann, mache ich es. Wir haben wir es zu Hause doch sehr schön. Ich würde ihn nicht ins Heim schicken.“
Was gegen Vereinsamung helfen kann
Wo aber bleiben dann ältere Pflegebedürftige, die keine Verordnung für Rehasport zu Hause bekommen können? Und vielleicht auch ganz alleine leben, ohne Hilfe von Angehörigen?
Während Gerhard Schäfer im heimischen Garten gemeinsam mit Frau und Therapeutin durch den Garten spaziert, haben sich 500 Kilometer weiter in Stade bei Hamburg, weniger oder gar nicht fitte Senioren auf dem Sportplatz des Vincent-Lübeck-Gymnasiums eingefunden. Zusammen mit Schülerinnen und Schülern hat die Schule zum Mehrgenerationenlauf eingeladen.
Die Schule will einen Beitrag dazu leisten, mit Bewegungsangeboten pflegebedürftige Menschen aus ihrer häuslichen Isolation zu holen, ihre Krankheitssymptome zu lindern, präventiv Gesundheit zu fördern und auch die Schüler für Gesundheit durch Bewegung zu sensibilisieren.
Ausgedacht hat sich den Mehrgenerationenlauf die Stader Seniorensporttrainerin Wencke Delekat. Sie „stolperte“ immer wieder über das mangelnde Angebot für pflege- und noch nicht pflegebedürftige Menschen, die zu Hause alt werden wollen.
Ihr Konzept: niedrigschwellige Sportstunden für Ältere in der Region, die sowohl Rehabilitation als auch Prävention sprich Krankheitsvorsorge miteinander verbinden. Jetzt sitzt sie mit Schulleiter Rouven Wauschkies im Lehrerzimmer und denkt über da nächste Projekt nach:
„Ich habe schon von vielen Senioren gehört, dass sie an dieser Begegnung, also Alt trifft Jung, total begeistert sind.“
Wir planen, die Verbindung zwischen Jung und Alt, zwischen Schülern und Senioren fortzusetzen und vielleicht, wenn es uns gelingt, zu institutionalisieren. Wir wollen dieses Format, den Lauf der Senioren, auf jeden Fall fortsetzen. Das wird hier an der Schule stattfinden - und wir wollen eine AG einrichten. Die Pflege zu Hause halte ich für den besten Weg. Wenn Kinder die älteren Menschen in Bewegung bringen, kommt das den Familien zugute. Es gibt Abwechslung und Motivation.
Schulleiter Rouven Wauschkies
Stade schreibt Pflegegeschichte
Die umtriebige Seniorensporttrainerin ist daher ständig auf dem Sprung und hat in Stade und Umgebung bereits ein Stück Sport- und Pflegegeschichte geschrieben.
Denn nicht nur die Schule macht inzwischen mit, ältere Menschen mit und ohne Pflegebedarf zu Hause „zu bewegen“. Auch Landrat Kai Seefried und Karsten Brokelmann, Stadtrat und Präsident des größten Sportvereins von Stade sind von dem Bewegungsangebot für Ältere längst überzeugt und ziehen gemeinsam an einem Strang.
Laden Alt und Jung regelmäßig zu Zukunftswerkstätten ein und vernetzen dabei unterschiedliche Träger, wie ambulante Pflegedienste, Sportvereine, Wohnungsgenossenschaften und selbständige Bewegungstherapeuten, um die Pflege zu Hause zu ermöglichen.
Seefried: „Im Alter würde man sich eigentlich wünschen, dass man Freunde und Familie um sich herumhat, mit denen man gemeinsam älter wird. Vielfach sehen wir aber, dass die Herausforderungen ganz andere sind. Menschen werden alleine alt, sind alleine zu Hause. Es fehlt dann eben an Bewegung. Da ist es dann notwendig, dass man über entsprechende Angebote intensiv nachdenkt, um Menschen in Bewegung zu halten.“
Brokelmann: „Es muss natürlich das Ziel sein, auch Gruppen zu erschließen, die sonst Schwierigkeiten haben, Sportangebote wahrzunehmen. Wir stellen fest, dass eine große Vereinsamung in der älteren Generation einsetzt und dass wir als Sportverein auch eine soziale Verantwortung haben. Wir versprechen uns damit, dass die Bindung an den Sportverein und die Bindung an soziale Kontakte sich dadurch verbessert. Wenn man sich die Gesamtsituation, was die die Unterstützung der Angebote ansieht, gerade auch, was die Krankenversicherungen angeht, muss man das als sehr enttäuschend bezeichnen. Ich glaube, dass zumindest die Sportvereine das sehr wohl erkannt haben. Aber es ist schon erschreckend, wie viele Steine in den Weg gelegt werden. Man hat den Eindruck, dass durch möglichst viele bürokratische Hürden eher verhindert als unterstützt wird.“
Viele Vereine haben eine eigene Rehasparte
Überlegenswert wäre gleichwohl, wie sich auch örtliche Sportvereine künftig als Anbieter von mobiler Reha zu Hause engagieren könnten. Denn: Viele Vereine haben eine eigene Reha- und Präventionssparte für Gruppensport in der Halle mit speziell von den Krankenkassen zugelassenen und ausgebildeten Trainern.
Fachliches Know-how, um Pflegebedürftige zu Hause in Bewegung zu bringen, ist also vorhanden. Solange die Bezahlung allerdings völlig ungeklärt ist, bleibt nur, die Kosten für solche Hausbesuche aus eigener Tasche zu bezahlen. Kritisiert Professorin Martina Hasseler, Gesundheits-, Pflege- und Rehabilitationswissenschaftlerin von der Ostfalia Hochschule in Wolfsburg.
Sport und Bewegungsangebote sind in der Pflegeversicherung nämlich gar nicht enthalten. Das dem zugrunde liegende Sozialgesetzbuch elf sieht nämlich keine Pflege vor, wie sie sich jeder wünscht. Sondern nur eine Minimalversorgung. Selbst Altenheime sind daher nicht verpflichtet, Sport und Bewegungskurse für die Bewohner anzubieten.
Pflegeversicherung deckt nur Grundversorgung
Hasseler: „Die Pflegeversicherung gibt uns allen vor, weil Pflege davorsteht, dass es um Pflege ginge. Aber die pflegefachliche Versorgung im Sinne von Prävention, gesundheitsförderliche rehabilitative, aktivierende Pflege kann man sich nicht einkaufen, mit diesen Minimalleistungen der Pflegeversicherung. Das ist ein Kernproblem. Weil wir aus vielen anderen Studien auch wissen, auch der normale Menschenverstand sagt uns das schon, dass mit einer guten pflegefachlichen Versorgung, die qualitativ hochwertig ist, im Grunde Geld sparen, Pflegebedürftigkeit sparen, Angehörige auch unterstützen, aber auch die Krankenhausaufnahmen reduzieren könnten, Leute schneller nach Hause entlassen könnten usw. All das will sich dieses Land aber nicht leisten.“
Die Pflegeexpertin Andrea Würtz ergänzt:
„Plakativ formuliert würden wir sagen: Sauber, satt und trocken.“
Würtz hat kritische Bücher über die Defizite in der Pflege in Deutschland geschrieben und dort auch Beispiele aufgeführt, wie mobile Reha funktionieren kann. Wenn auch die Politik sich mehr bewegen würde.
„Warum stellen wir oder auch die betroffenen Angehörigen diese Fragen nicht klarer auch an die politischen Entscheider?“
Kaum ein Experte erwartet, dass durch die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach in diesen Tagen angekündigte Pflegereform sich an der Starrheit des Systems „Reha vor Pflege“ etwas für die Pflegebedürftigen zu Hause und deren Angehörige ändern wird. Bleibt nur, solche Kurse aus eigener Tasche zu bezahlen.
Lena Weidingers geriatrische Rehasportstunden sind heute zu Ende. Noch im Auto denkt sie über ihre Erlebnisse bei ihren Hausbesuchen nach. Und hofft, dass bald doch möglichst viele Menschen mit Pflegebedarf in den Genuss solcher Stunden kommen werden:
„Was mich natürlich auch ein bisschen stolz macht, da der Vorreiter zu sein. Wir hoffen natürlich, dass das weiter ausgebaut wird.“