Rollentausch

Wenn Eltern Pflege brauchen

31:00 Minuten
Eine ältere Frau sitzt auf der Terrasse eines Wohnhauses. Vor ihr steht ein Rollator.
Etwa 80 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland werden offiziell zu Hause gepflegt. Viele Familien sind von der Situation überfordert. © Getty Images / freemixer
Von Katja Bigalke |
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Nicht nur die Rollenverteilungen ändern sich, wenn die Eltern alt und hilfsbedürftig werden. Die Kinder müssen zusätzlich auch organisatorisch zu Höchstleistungen auflaufen. Das ist emotional schwer und kostet viel Kraft. Wie ist das zu schaffen?
Mittagsdienst: Stefanie Dammermann vom Pflegedienst drückt die Haustür auf, steigt routiniert die schmale Treppe hoch in den ersten Stock. Wie immer sitzt ihre Klientin, die 88-jährige Inge Schänzer in der kleinen Wohnküche auf ihrem Sessel am Fenster, eingemummelt in eine Wolldecke.
Auch Inge Schänzers beiden Söhne sitzen am Küchentisch. Normalerweise ist das nicht ihre Zeit bei der Mutter: Sohn Jörg, der in der unteren Etage des Hauses mit Frau und Kind wohnt, verabschiedet sich in der Regel schon um vier Uhr früh zu seiner Arbeit. Er kommt erst abends wieder zurück.
Sohn Willy schaut dreimal die Woche vorbei. Aber heute ist Ausnahme – wegen des Interviews – deswegen hat Jörg Schänzer mit seiner Mutter den Toilettengang auch schon erledigt. Sie ist frisch gewickelt.
Stefanie Dammermann muss nur noch das eingeschweißte Mittagessen in der Mikrowelle erhitzen. „So, Frau Schänzer, das sieht aus wie so ein Hacksteak, mit einer schönen Soße“, sagt sie. „Nicht so viel? Nein, nein, aber es ist so heiß. Dann warten wir einen Moment.“

Die Schänzers pflegen ihre Mutter zu Hause

Mithilfe von Stefanie Dammermann und ihren Kolleginnen, die dreimal täglich vorbeischauen, pflegen die Schänzers ihre Mutter zu Hause. Drei Söhne, von denen der jüngste die meiste Arbeit übernimmt, weil er im gleichen Haus wohnt und den die anderen beiden regelmäßiger und unregelmäßiger dabei unterstützen.
Alle drei wohnen mehr oder weniger um die Ecke. Und so war es keine Frage, dass ihre Mutter zu Hause bleiben würde, als sie nach dem Tod ihres Mannes vor acht Jahren immer schlechter alleine zurechtkam, irgendwann nicht mehr alleine aufstehen konnte und sich von einer Krebsoperation nur sehr schleppend erholte, erzählt Jörg Schänzer.

Danach haben wir den Pflegedienst angenommen. Dann ging das ziemlich zügig. Also, das war dann so Stück für Stück, dass immer mehr gemacht werden musste. Ich sage mal, ich klopfe auf den Tisch: Seit fünf Jahren ist es so, wie es jetzt ist. Also es hat sich nicht verschlechtert. Es hat sich aber auch nicht verbessert. Wenn es sich verschlimmern würde, wüsste ich jetzt auf Anhieb nicht, wie ich das weitermachen sollte.

Jörg Schänzer

Die Pflegerinnen entlasten im Alltag und übernehmen auch die komplizierte Medikamentengabe. Mit Geldern der Pflegeversicherung konnte ein Treppen- und Badewannenlift im Haus installiert werden, fast alles, was die Brüder für die Pflege ihrer Mutter brauchen, bekommen sie gestellt. Nur bei den Windeln müssen sie zuzahlen.

Die drei Geschwister teilen sich die Arbeit

Auch mit der Arbeitsaufteilung zwischen den Geschwistern sind sie zufrieden. Jörg Schänzer wäscht und wickelt seine Mutter, er cremt sie ein. Abends sitzt er oft mit ihr vor dem Fernseher, bevor er sie ins Bett bringt. Sein Bruder leistet ihr tagsüber Gesellschaft und übernimmt die Arztbesuche. Der dritte Bruder hilft auf Zuruf aus.
Eine Pflegekraft füttert eine ältere Frau, die im Bett liegt.
Die Hilfe einer Pflegekraft entlastet pflegende Angehörige im Alltag.© picture-alliance/ gms / Patrick Pleul
Natürlich gibt es Momente, in denen Jörg und Willi Schänzer an ihre Grenzen kommen.
Willi Schänzer zum Beispiel hätte Schwierigkeiten, seine Mutter zur Toilette zu begleiten. „Also, ich hätte schon noch ein bisschen Probleme mit dem Job, muss ich ehrlich sagen. Sobald ich das irgendwie rieche, das ist halt so! Ist nicht jedermanns Sache.“
Auch Jörg Schänzer ist manchmal am Ende mit seinen Kräften. Er hat einen Vollzeitjob und ein kleines Kind zu Hause. Der 46-Jährige war aber mal Lkw-Fahrer, da hat er gelernt, im Sitzen ein Nickerchen zu machen. Das hilft ihm heute.
„Ich kann mich hier hinsetzen im Sessel. Ich schlafe zehn Minuten, eine Viertelstunde. Wenn ich dann wach bin, da bin ich wieder, als wenn ich ein paar Stunden geschlafen hätte“, erzählt er.

„Die Mama hat immer funktioniert“

Mehr als jede Unterstützung macht Willy und Jörg Schänzer aber zu schaffen, dass die Mutter nie mehr wieder die alte sein wird. Das Abschiednehmen von der starken Frau, die sie einmal war.
„Die Mama hat immer funktioniert. Immer! Dann auf einmal sitzt sie nur noch im Sessel und will nichts mehr. Manchmal hat sie auch den Lebensmut verloren. Wenn man das dann hautnah miterlebt, dann wird man schon nachdenklich“, sagt Willy Schänzer.
Aber weil das Verhältnis zur Mutter immer gut war und sie sich immer versorgt fühlten, empfinden die Söhne es als selbstverständlich, nun für ihre Mutter  da zu sein.
„Da habe ich keine Bedenken. Also sie hat uns ja großgezogen, und wir sind aus unseren Augen was geworden. Wir sind ja volljährig, wir sind ja keine Kinder mehr und da ist man ja schon mal frei im Leben. Ich sage mal, es war vorher ein Mitleben und jetzt hat man eine Aufgabe. Die muss man dann machen, weil das hat sie ja früher für uns gemacht“, sind die Söhne überzeugt.
Inge Schänzer hat ihr Essen bekommen. Für die Pflegerin Stefanie Dammermann war das der letzte Termin heute, sie kann jetzt gehen. Sie mag die Familie Schänzer, das merkt man.

So wie bei den Schänzers – mit den Brüdern – das hat man eigentlich seltener. Also meistens ist es wirklich so, dass immer die gleichen Leute kommen, also die gleichen Kinder oder Verwandten, wenn sie denn überhaupt kommen. Das haben wir leider häufig. Dass sie dann auch, das ist dann der schlimmste Fall, dass sie nur hinfahren, wenn es die Rente gegeben hat und dann zum Beispiel auch das Geld abholen. Aber es gibt eben auch viele, die sich einfach auch überhaupt nicht kümmern.

Stefanie Dammermann

Praktische Tipps für die pflegenden Angehörigen

Je nach Pflegegrad und den der Pflegeperson zustehenden Versorgungsleistungen kann Stefanie Dammermann einiges auffangen – aber eben nicht alles.
Sie kann den Angehörigen, wenn sie sich engagieren wollen, auch ein paar praktische Tipps geben, was sie in der Pflege besser machen können. Doch nicht immer sind ihre Ratschläge gefragt.
„Ich denke ganz einfach, dass sie sich erst mal damit abfinden müssen, dass da jetzt noch jemand anders ist, der Vorschläge macht“, erzählt sie. „Oft ist es auch so, dass sie sich nicht aus der Hand nehmen lassen wollen, wenn dann jemand eigentlich fremdes – wir Schwestern sind ja alle fremd – da in den Haushalt kommt. Das ist oft für die meisten nicht so einfach, weil sie gewohnt sind, ihren Film zu machen und sich da nicht reinreden zu lassen.“
Etwa 80 Prozent der pflegebedürftigen Menschen in Deutschland werden offiziell zu Hause gepflegt – manche alleine von Angehörigen, manche mit Unterstützung von professionellen Pflegediensten und manche mithilfe von nicht-registrierten, oft osteuropäischen Pflegerinnen.
Klar ist – unabhängig von der statistischen Unklarheit wonach geschätzt 300.000 illegal beschäftigte Pflegekräfte im Land leben – dass die häusliche Pflege Vorrang hat vor der stationären und dass die Pflegeversicherung es fördert, wenn Menschen so lange wie möglich in ihrer vertrauten Umgebung betreut werden.

Häusliche Pflege kann überfordern

Das findet Stefanie Dammermann generell auch richtig. Aber viele Familien schlitterten ziemlich unvorbereitet in diese Situationen hinein.
„Ich habe also schon oft erlebt, dass die Leute sich gar nicht darüber im Klaren sind, was wirklich auf sie zukommt. Wenn dann der Vater, die Mutter oder wer auch immer dann krank ist: Was dann passiert mit ihnen selbst, weil sie mit der Pflege überfordert sind“, erzählt sie.
„Ich denke, viele wollen eigentlich schon, dass alles so weitergeht. Viele wollen einfach auch die Eltern nicht abschieben. Dass sie sagen: So du kommst jetzt ins Altenheim, weil wir können das nicht. Sondern: Wir wollen das zu Hause machen. Aber das Problem ist ganz einfach, dass das manchmal einfach nicht so gut realisierbar ist, wie sie es gerne hätten.“
Wie also können sich Familien vorbereiten auf einen Pflegefall? Wer übernimmt, was, wenn die Mutter oder der Vater pflegebedürftig wird? Welche Unterstützung und auch welche Anerkennung bekommen pflegende Angehörige in Deutschland? Und kann man eigentlich überhaupt von Angehörigen erwarten, dass sie sich kümmern?

Viele Familien finden „kreative Lösungen“

Fragen, mit denen sich die Erziehungswissenschaftlerin Katharina Gröning von der Universität Bielefeld beschäftigt. Im letzten Jahr hat sie ein Buch zum Thema Familien- und Geschlechtergerechtigkeit in der Pflegeversicherung veröffentlicht.
„Die familiale Pflege hat sich als absolut robust erwiesen. Es scheint so, als würden Familien sehr kreative Lösungen finden, Möglichkeiten suchen, um die Sorge für Ältere zu stemmen. Es gab früher also vor Einführung der Pflegeversicherung, das Modell ‚Wer erbt, muss pflegen‘“, erklärt sie.
„Also da waren Schwiegertöchter eigentlich die Gruppe, die angesprochen war. Das heißt, die Erblinie war männlich und die Pflege wurde dann von der Schwiegertochter geleistet. Das hat sich in den 90er-Jahren sehr verschoben, auf die Pflege hin zur Tochter. Die ist nach aktuellem Stand immer noch mehrheitlich die Hauptpflegeperson.“
Zwar ist es mittlerweile so, dass zwischen 20 und 30 Prozent der knapp fünf Millionen pflegenden Angehörigen in Deutschland männlich sind – die Datenlage schwankt hier je nach Studie. Aber Frauen sind in allen Erhebungen deutlich in der Überzahl.
Dass sich daran nur sehr langsam etwas ändert, wird laut Katharina Gröning dazu führen, dass das deutsche Pflegesystem irgendwann implodieren wird.

Wenn die Pflege künftig nicht geschlechtergerechter wird, dann wird die häusliche Pflege weniger Zukunft haben, weil die Frauen sich diese häusliche Pflege zu den Bedingungen des alten Geschlechter-Vertrages, also der sogenannten natürlichen Arbeitsteilung und der sogenannten Frauensache, sich nicht mehr zumuten lassen.

Sondern sie werden sehr genau innerfamiliale Gerechtigkeit und letztendlich auch gesellschaftliche Solidarität einfordern. Und das ist in der Tat eine Leerstelle in dem System, also auch in der Pflegeversicherung.

Katharina Gröning

Angst und Schuld sind im Spiel

Tritt der Pflegefall ein, bleibt es meist den Familien überlassen, zu klären, wie es weitergeht – das übliche Szenario beschreibt Katharina Gröning so:
„Also Menschen, die im Krankenhaus sind, nach einem Schlaganfall, nach einer schweren anderen Erkrankung: Diese Menschen geraten in eine starke Angst und Schuldproblematik und klammern sich an ihre Kinder. Sie versuchen auch, im Sinne von Geben und Nehmen, von innerfamiliärer Kontoführung und Gerechtigkeit nun Kinder zu verpflichten. Also wer hat für wen eigentlich im Lebensverlauf was geleistet und gemacht? Wer schuldet wem was?“
Es sei aber deutlich, dass die große Zahl der Eltern finde, weil sie die Kinder aufgezogen haben, schulden die Kinder ihnen nun wiederum etwas.
„Es ist dann so, dass diese Kontoführung auch in den Geschwister-Systemen diskutiert wird und dann Gründe angeführt werden, warum man pflegen muss – beziehungsweise warum man nicht pflegen kann: Da ist Berufstätigkeit, die Verantwortung gegenüber eigenen Kindern, die vielleicht noch klein sind, der entfernte Wohnort“, erklärt die Wissenschaftlerin.
„Das sind dann Gründe, warum man das nicht leisten kann. Auf der anderen Seite sind dann solche frauentypischen Merkmale wie Teilzeitarbeit oder, man wohnt eventuell nah dran und hat sich schon immer um die Mutter gekümmert: Solche Merkmale führen dann dazu, dass man Pflegeperson wird“, sagt Katharina Gröning.

Unterstützung für den pflegenden Ehemann

Petra Rüther ist froh, dass sie nach einem Schlaganfall endlich wieder zu Hause ist. Als eine ziemliche Zumutung - oft lieblos, gleichgültig und gestresst - hat die 67-jährige Malerin das Pflegepersonal in den stationären Einrichtungen empfunden.
Nun kümmert sich ihr Mann, Johannes Rüther, 70 Jahre alt, ehemaliger Oberstudienrat, um sie. Mithilfe von Mareike Frank – Pflegetrainerin am Klinikum Westfalen, die heute das erste Mal nach der Klinikentlassung vorbeischaut und die beiden auch über die nächsten Monate immer mal wieder besuchen wird, um über all die Herausforderungen zu sprechen, die die neue Situation mit sich bringt.
„Ich habe noch mal ganz viel in meinem Wunderköfferchen für sie beide mitgebracht“, sagt sie. „Aber ich sehe schon, ihr Mann war fleißig. Hat ihnen auch schon so was gekauft, so ein Gummituch einer Antirutschmatte.“ Die Gummimatte für die Rollstuhlablage hat Johannes Rüther längst besorgt, auch den Trainer für das eine Bein.
Er hat eine Stange an der Wand befestigt, an der sich Petra Rüther hochziehen kann und ihr ein neues Bett gebaut, das im Wohnzimmer steht und leichter zu handhaben ist als das alte Ehebett.
Weil die Krankenversicherung die neue Ausstattung nicht sofort übernommen hätte, hat Johannes Rüther das alles erst mal aus eigener Tasche bezahlt.
Ein älteres Paar sitzt nebeneinander in Sesseln vor einem Fenster. (Symbolfoto)
Was tun, wenn ein Ehepartner plötzlich pflegebedürftig wird?© imago / Westend61
Petra Rüther gibt sich viel Mühe, den Mut nicht zu verlieren. Manchmal ist die Traurigkeit aber überwältigend. Auch die Scham und die Wut über ihre eigene Hilflosigkeit. Dann bricht sie in Tränen aus.

Sie ist sehr sensibel und sie passt immer auf, dass ich alles richtig mache, weil sie hat die ganzen Pflegesituationen erlebt, und sie ist immer mein bestes Korrektiv. Wenn sie sagt: Nein, das muss jetzt anders gehen, du musst das so machen. Dann sagt sie mir immer, wie ich es machen muss.

Johannes Rüther

Die Kinder spielen eine Nebenrolle

Johannes Rüther übernimmt gerade alles. Einkaufen, kochen, waschen, unterhalten bis hin zum Training. Er macht das mit Hingabe. Im Vergleich dazu spielen die drei Kinder der Rüthers eine Nebenrolle. Sie rufen an oder kommen öfter mal zu Besuch.
So ist es oft in der familialen Pflegebiografie: Erst pflegen sich die Partner gegenseitig und erst später übernehmen die Kinder die Pflege der Eltern. Aber an diesem Punkt sind Johannes und Petra Rüther noch nicht: Im Gegenteil: Sie arbeiten daran, dass alles wieder möglichst so werden soll wie vor dem Schlaganfall.
„Wenn ich die Perspektive hätte, es ist so, wie es ist, und es wird nur noch schlechter von Jahr zu Jahr. Dann könnte ich das auch mit meiner Kraft nicht durchstehen“, sagt Johannes Rüther. „Dann müsste ich eine andere Lösung finden: einen mobilen Pflegedienst, 24 Stunden und so weiter. Ich kann es eine Zeit durchstehen mit der Perspektive: Es wird besser.“
Denn auch Johannes Rüther, der wirklich alles für seine Frau tut, ist es manchmal zu viel.
„Am Anfang gab es aber auch eine Situation, wo ich eine Grenze einziehen musste, wo ich gesagt habe: Das mache ich nicht mit, bis hierher und nicht weiter. Also ich wünsche mir doch auch, noch zu sagen: Kannst du bitte mal den Toilettenstuhl holen. Nicht: Toilettenstuhl her“, erzählt er.
„Das höre ich mir dreimal an. Dann habe ich gesagt: So geht es nicht, wir müssen doch bestimmte Formen einhalten. Sei bitte höflich und respektvoll auch zu mir, auch wenn ich alles für dich tue. Aber da sind auch Grenzen.“
Wie miteinander umgehen in einer Situation, die physisch und psychisch äußerst fordernd ist, in der Pflegende und Pflegebedürftige mitunter ans Ende ihrer Kräfte und ihrer Nerven gelangen?

Eine Pflegetrainerin gibt Hilfe zur Selbsthilfe

Nicht alle Angehörigen haben eine positive Prognose. Sie müssen trotzdem, mitunter auch über einen langen Zeitraum lernen, gut für sich und andere zu sorgen. Allein mit praktischen Pflegetipps- un,d Kniffen kommt man da nicht weiter, meint Mareike Frank.
„Wir machen einfach Hilfe zur Selbsthilfe, ein Pflegedienst würde das nicht machen. Pflegedienste, die unterstützen im Rahmen der Grundpflege. Aber sich Zeit nehmen, problemorientiert arbeiten zu gucken, wo ist das Problem? Wie kann ich das in der Familie bewältigen, ohne sich selbst aufzugeben? Oder ohne dass ich ganz viel Kraft investieren muss, dass ich wirklich noch mit meinem Partner oder mit meinem Kind – wen es dann auch betrifft – auch lange zu Hause bleiben kann, das machen die halt nicht“, erklärt sie.
„Wir sind einfach da, nach einem Krankenhausaufenthalt zu gucken und zu betreuen: Dass man einfach auch den Mut hat und sich nicht aufgibt und dass es dann nach zehn Tagen auch wieder zurück ins Krankenhaus geht, weil das zu Hause überhaupt nicht funktioniert.“

Schnittstelle zwischen Familien und Krankenhäusern

Mareike Frank ist nach einer Ausbildung in der Geriatrie und Gerontopsychiatrie 2017 über ein Pilotprojekt in Nordrhein-Westfalen an den Job der Pflegetrainerin gekommen. In Kooperation mit der AOK und der Universität Bielefeld ging es bei dem Projekt damals darum, eine Schnittstelle zu schaffen zwischen den Krankenhäusern, die häufig die erste Station auf dem Weg in die Pflegebedürftigkeit sind, und den Familien, in denen die Angehörigen anschließend versorgt werden.
„Wissen Sie, wenn der Ehepartner, Freund, Nachbarn oder auch das Kind, von jetzt auf gleich pflegebedürftig wird, Sie dann vor vollendete Tatsachen gestellt werden und auf einmal heißt es: Ihr Mann oder ihre Ehefrau kann nichts mehr, Sie brauchen das und das und das“, erzählt sie.
„Der Sozialdienst hat Ihnen einen Toilettenstuhl aufgeschrieben und sie stehen dann dort zu Hause, und wissen gar nicht: Wie funktioniert so was überhaupt? Oder wie kann ich jemanden mobilisieren oder waschen, sodass ich mich als pflegender Angehöriger selber nicht in Mitleidenschaft ziehe und eigentlich auch meinem Angehörigen, den ich dann pflege, auch noch Ressourcen schaffe? Das wissen viele gar nicht.“

Begleitung über viele Monate

Mareike Frank begleitet die Familien oft über viele Monate. Die Idee ist, zu helfen, bevor es die Situation aus Überforderung eskaliert.

Viele merken über Monate oder Jahre gar nicht, dass sie auf einmal wirklich sozial isoliert sind und das überhaupt nur noch das Problem ist. Ich pflege meinen Angehörigen, aber was ist mit mir? Und dann steht man vor der Situation und ist dann selber vielleicht krank, ist selber psychisch überlastet.

Dann passieren ganz, ganz viele Fehler und viele Kommunikationsmissgeschicke auch innerhalb des eigenen Familienverbundes, was vielleicht dann auch noch mehr zur Isolation führt, dass auf einmal die Tochter, der Sohn mit einem gar nichts mehr zu tun haben möchte.

Mareike Frank

Mareike Frank kennt Menschen, die sich aus Scham über die Demenzerkrankung eines Angehörigen nicht mehr vor die Tür wagen oder die aus Schuldgefühlen gegenüber pflegebedürftiger Eltern, ihre Partnerschaft so vernachlässigen, dass ihre Ehe daran scheitert. Damit es gar nicht erst dazu kommt, vereinbart Mareike Frank meistens schon im Krankenhaus ein Erstgespräch.
„Dann sage ich denen immer: Laden Sie doch mal den anderen Sohn ein, machen Sie doch mal einen Familienrat und unterhalten sie sich einfach einmal über ihre eigenen Bedürfnisse. Wer kann was machen, auch wenn es wirklich nur einmal der Einkauf ist oder einmal nur eine halbe Stunde da sein, dass sie vielleicht dann zum Friseur können“, erklärt sie.
Am besten sollte sich die komplette Familie zusammensetzen und sich in einem moderierten Gespräch darüber verständigen, wer was macht, damit die Pflege nicht unausgesprochen an nur einem Einzelnen hängen bleibt. Außerdem können so auch übertriebene Erwartungen der Pflegebedürftigen den realistischen Möglichkeiten der Angehörigen angepasst werden.

Sich mit anderen Betroffenen austauschen

Unabhängig davon sei es sowieso immer gut, aktiv den Austausch mit anderen pflegenden Angehörigen zu suchen, rät die Pflegetrainerin. Die Erfahrung anderer helfe immer weiter. Auch lasse sich relativ schnell, oft nach nur ein paar Hausbesuchen, feststellen, ob ein Pflegesetting für alle funktioniert.
Umso mehr verwundert es, dass das Modell familialer Pflegetrainings in Deutschland bisher nur in Hamburg, Schleswig-Holstein und Berlin Schule gemacht hat.
Loni Raubeck, die im Radio ihren echten Namen nicht nennen will, ist Mitglied im Verein "Wir pflegen" – eine Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige. Im April 2022 Mai hat sie ihren Vater beerdigt. Ihre Mutter ist schon vor ein paar Jahren gestorben. Nun stapeln sich in ihrer Berliner Plattenbauwohnung die Kisten mit alten Fotos.
Die 66-Jährige weiß noch nicht genau, was sie damit machen will. Die Leidenschaft für die Fotografie hat sie mit ihrem Vater geteilt, aber in der Zeit vor seinem Tod haben sich die beiden immer weiter voneinander entfernt. Nachdem Loni Raubeck erst ihre Mutter mithilfe einer Pflegerin zu Hause, dann in einem Heim versorgt hatte, kümmerte sie sich nach deren Tod um ihren Vater.
Mehrere Jahre ging das so: Die selbstständige Grafikerin fuhr fast täglich bei ihren Eltern vorbei, half im Haushalt, beim Einkauf, Kochen und bei den Arztbesuchen. Ihr Privatleben verkümmerte. Sie fühlte sich allein verantwortlich, auch weil ihr Bruder in einer anderen Stadt wohnt.

„Meine Eltern haben mich immer unterstützt“

„Meine Eltern haben mir gesagt, nicht ins Pflegeheim. Das haben sie ständig gesagt“, erzählt sie. „Ich muss dazu sagen, irgendwie war das bei mir auf eine Art eine Verpflichtung oder so: Weil meine Eltern waren immer irgendwie da und haben mich immer unterstützt, wenn es mal schwierig war, gerade in der freischaffenden Zeit.“
Aber Loni Raubeck konnte es ihrem Vater nicht recht machen. Es war nie genug. Ihr Vater konnte sich kaum noch bewegen, akzeptierte aber schwer nur fremde Hilfe im Haus.
„Die hat er dann auch sehr, ich muss mal sagen, sehr unhöflich und sehr wütend behandelt, wo auch einige weinend nach Hause aus der Wohnung rausgegangen sind“, sagt sie. „Ich bin dann immer wieder hingefahren und habe versucht, zu schlichten. Er ist mit seiner Situation nicht klargekommen. Er hat auch gesagt: Was soll ich denn noch? Ich schaffe nichts mehr.“
Die Grafikerin war auch selbst nicht ganz zufrieden mit der Arbeit des ambulanten Pflegedienstes und dessen extremen Zeitdruck. Aber der Konflikt zwischen ihr und dem Vater hatte in erster Linie damit zu tun, dass er sich das Ende seines Lebens anders vorgestellt hatte.

Er hat denn nach einer gewissen Zeit gesagt: Du kannst ja zu mir hier hinziehen. Es war eine Dreizimmerwohnung. Vom Platz wäre das möglich, und dann gibst du deine Wohnung hier auf. Das habe ich nicht gemacht. Ich habe gesagt, du musst dein eigenes Leben haben. Also ich habe es abgelehnt. Er hat es aber nicht akzeptiert.

Loni Raubeck

Loni Raubeck finanzierte privat noch eine zusätzliche Pflegerin, die mit ihrem Vater zum Arzt gehen konnte und ihm ein wenig Gesellschaft leistete, während sie arbeitete. Aber irgendwann ging auch das nicht mehr. Der Vater konnte kaum noch etwas sehen. Er war hingefallen.
Danach kam er in ein Pflegeheim, wo er die letzten Monate seines Lebens verbrachte. Wütend und traurig, in einer Umgebung, die beide, Vater und Tochter, als ziemlich lieblos empfanden. „Jetzt, wo ich das alles erlebt habe, habe ich mir gesagt, ich versuche, bewusster zu leben. Was jetzt noch schwierig ist: Irgendwie etwas erleben, was noch Freude macht“, sagt sie.

Reden, bevor der Ernstfall eintritt

Hätte eine Pflegetrainerin Loni Raubeck helfen können? Vielleicht. Sicher hätte es geholfen, sich frühzeitig und gemeinsam mit den Eltern darüber zu verständigen, wie man sich ein Pflegesetting vorstellt, bevor der Ernstfall eintritt.
Katharina Gröning von der Universität Bielefeld meint, der Grund, warum das Thema Pflege so selten in den Familien besprochen würde, hinge auch damit zusammen, dass es auch in der öffentlichen Diskussion nicht als elementarer Teil einer Familienbiografie diskutiert würde.
Die Pflege gehört als Politikfeld zum Gesundheits- und nicht zum Familienministerium. Genau in Letzteres gehört es ihrer Meinung nach aber hin.
„Wenn man jetzt den Ursprung der Pflegeversicherung anguckt, sehr starke normative Einflüsse, sozusagen eine heimliche Familienpolitik der Pflegeversicherung. Die war eben stark von der katholischen Soziallehre mitgeprägt, von der Idee von Pflege aus Liebe, von Pflege als Geschenk, als praktische Nächstenliebe“, erklärt sie.
„Also etwas, was man aus Liebe tun sollte und was mit der Idee des Guten zu tun hat. Faktisch hat das aber bedeutet, dass der alte traditionelle Geschlechtervertrag fortgeschrieben wurde. Dass quasi diese praktische Pflege eine Frauensache ist. Und es war dann eben klar, für diese Verantwortung sollten Frauen dann sozialrechtlich besser berücksichtigt werden.“

Ein unzureichendes Pflegezeitgesetz

In den 1990er-Jahren wurde zwar das Pflegegeld eingeführt, das diese Art Solidaritätsdienst honorieren sollte und das über die Jahre immer wieder erhöht wurde. Pflegezeiten wurden auch erstmalig bei der Rente anerkannt. Eine Pflegezeitpolitik, die das Ziel verfolgt, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erleichtern, wurde aber erst Ende der Nuller-Jahre ausgearbeitet.
Aber das seitdem immer weiterentwickelte Pflegezeitgesetz ist – laut Katharina Gröning – nach wie vor unzureichend. Im Gegensatz zur Betreuung von Kleinkindern, bei der es in Form von Elterngeld und -zeit, dem Ausbau von Kitas und etlichen familienunterstützenden Maßnahmen politisch durchaus einen Sinneswandel in der Anerkennung gegeben hätte, würde die Pflege von Familienmitgliedern nach wie vor als Ehrenamt wahrgenommen.

Aber es ist keine ehrenamtliche Pflege, es ist familiale Pflege, und deshalb braucht es auch einen familienpolitischen Rahmen mit familienpolitischen Prinzipien. Das heißt: Auch in der Familienpflege wird Humanvermögen hergestellt. Auch die familiäre Pflege darf nicht nur als etwas betrachtet werden, was kostengünstiger ist als die Pflege im Heim, sondern sie muss sozusagen als etwas betrachtet werden, was ein wichtiger Teil unseres Zusammenlebens ausmacht.

Dafür braucht sie eine ganz andere, unterstützende Politik. Das hat ja die Familienpolitik in den letzten 30 Jahren mühsam gelernt, immer wieder auch unterstützt durch das Bundesverfassungsgericht. Da muss sich die familiale Pflege eben anschließend an diesen Trend.

Katharina Gröning

Pflege alter Menschen anders wahrnehmen

Dabei geht es – das ist Katharina Gröning wichtig zu betonen – nicht nur um eine finanzielle Anerkennung der Leistung. Sondern um eine andere Wahrnehmung der Pflege alter Menschen. Und zwar als Teil des Lebens, dem man auch einen entsprechenden Raum geben sollte, als Entwicklungsaufgabe, für einen mitunter ziemlich langen Zeitraum des erwachsenen Daseins.
„Wenn man Verantwortung für die alten Eltern übernehmen will und übernehmen muss, muss man sich in gewisser Weise noch mal von ihnen ablösen. Diese Ablösung ist aber eine andere als die adoleszente Rebellion, wo man die Eltern nur unmöglich findet, also sich nicht mehr identifizieren möchte. Die filiale Reife beginnt tatsächlich bei dem Durchmustern der Lebensgeschichte der alten Eltern“, erklärt sie.
„Man muss sich darüber klar werden, welches Leben haben eigentlich meine Eltern gelebt? Welche Biografie haben meine Eltern gehabt? Das ist etwas ganz anderes, als sich hineinzusteigern, ob ich jetzt den großen Popo waschen muss oder den kleinen. Da muss man im Prinzip nur das Kopfkino ausschalten. Da reicht meist ein Pflegekurs von zwei, drei Tagen bei einer erfahrenen Pflegetrainerin oder einem erfahrenen Pflegetrainer.“
Schuldet man seinen Eltern Pflege, weil sie sich ja auch um einen gekümmert haben? Katharina Gröning will diese Frage so generell nicht beantworten, weil dahinter immer auch ein „müssen“ steckt, das die Belastung und den Stress bei der Pflege implizit in den Vordergrund schiebt.
„Keine Frage: Es gibt im Lebenszyklus Belastungen und es gibt nicht nur Lebensphasen, die schön sind und die, wo man nur glücklich ist und leicht lebt“, sagt sie. „Sondern das Leben beweist sich eben auch an der Verantwortung, die man trägt. Manchmal muss man sich auch bei den Philosophen erkunden, was ein gutes Leben ist und nicht nur an der Konsumgesellschaft orientieren.“

Autorin: Katja Bigalke
Regie: Friederike Wigger
Ton: Hermann Leppich 
Redaktion: Kim Kindermann

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