"Bei den Kosten verschätzt man sich wahnsinnig"
Pflegebedürftige und ihre Angehörigen kämpfen mit eklatanten finanziellen Problemen, sagt Hauke Wendler. Der TV-Autor beklagt, dass das Thema in der Öffentlichkeit gar nicht wahrgenommen werde.
Katrin Heise: "Kostenfalle Pflege" haben Carsten Rau und Hauke Wendler ihre Dokumentation genannt, die heute, am Weltgesundheitstag, im NDR-Fernsehen ausgestrahlt wird. 2,5 Millionen Deutsche brauchen Pflege, weil sie krank sind oder weil sie dement sind. Für die alten Menschen und ihre Angehörigen ist das eine enorme Belastung, auch finanziell. Oft reichen die Ersparnisse nicht mal für die Kosten im Heim. Schon heute sind 40 Prozent der Pflegebedürftigen auf das Sozialamt angewiesen. Der Film zeigt an Beispielen von Pflege zu Hause und von Heimunterbringung aber außerdem auch noch die vielen anderen Aspekte, die pflegebedürftig sein oder auch pflegen eigentlich ausmachen. Hauke Wendler, ich grüße Sie ganz herzlich!
Hauke Wendler: Guten Tag, Frau Heise!
Heise: Es sind sehr beeindruckende Menschen in sehr schwierigen Situationen, die Sie in Ihrem Film zeigen, sehr unterschiedliche Situationen: Da ist eine alte Dame, die lebt mit ihrer sie pflegenden Tochter zusammen, eine andere wird von ihrem Sohn im Heim besucht, zwei Damen leben als Schwestern zusammen im Heim. Allen gemeinsam ist, dass sie eigentlich an ihre Grenzen gebracht wurden oder darüber hinaus. Ist das eigentlich typisch?
Wendler: Also ich glaube, das ist ganz typisch für dieses Thema Pflege, dass sehr, sehr viele Menschen also in diesem Land mit dem Problem, damit konfrontiert sind, damit zurechtzukommen, weil sie pflegen oder weil sie pflegebedürftig sind, und das Schlimmste dabei ist, dass es eigentlich in der Öffentlichkeit gar nicht wahrgenommen wird.
Heise: Und es geht eben nicht immer nur über die finanziellen oder an die finanziellen Grenzen, an die aber auch. Ihr Film heißt "Kostenfalle Pflege". Wie sind sie in diese Falle geraten, die Menschen, die Sie da porträtieren, beispielsweise die Frau, die ihre Mutter pflegt und inzwischen ihren eigenen Beruf und ihre eigene Wohnung aufgegeben hat?
Wendler: Also das Dramatische bei diesem Thema Pflege ist eigentlich, dass es aus der öffentlichen Diskussion raus ist und dass die Menschen häufig viel zu schlecht informiert sind und gar nicht wissen, was da passiert und was auf sie zurollt. Bei dem Fall, den Sie angesprochen haben, Renate Ziegler, 50 Jahre, aus Hamburg, ist genau das passiert. Die wollte ihre Mutter ganz kurz pflegen nach einer Operation, hat gedacht, nein, ich will die nicht ins Heim geben, und dann hat sie das sozusagen überrollt und sie hat nie den Punkt gefunden, wo sie gesagt hat, jetzt geht es nicht mehr, jetzt muss ich an mich selber denken, sondern sie ist letztlich in diesen Sumpf reingerutscht und steckt da heute ganz hilflos drin und niemand hilft ihr da raus.
Heise: Also sie bekommt Zuschüsse, aber irgendwann ging es eben beispielsweise nicht mehr, dass sie ihre selbstständige Arbeit – sie ist Heilpraktikerin gewesen –, dass sie die noch fortsetzen kann. Eine andere Dame, eine andere ältere Dame hatte sogar erheblich vorgesorgt, aber diese beträchtliche zurückgelegte Summe hat gerade mal für drei Jahre gereicht. Das heißt, man verschätzt sich total in den Kosten, oder?
"20, 25 Prozent weniger wert als vor 20 Jahren"
Wendler: Also bei den Kosten von Pflege verschätzt man sich wahnsinnig, zumal man auch dabei sagen muss, dass die Leistungen, die von der Pflegeversicherung geleistet werden, also in Eurozahlungen, in Eurobeträgen in den letzten 20 Jahren wirklich erheblich an Umfang verloren haben, weil da nie nachgebessert worden ist. Das heißt, das, was ich heute bekomme, ist heute 20, 25 Prozent weniger wert als vor 20 Jahren.
Heise: Weil es nicht angepasst wurde?
Wendler: Genau, es wurde nicht angepasst oder ab 2008 ein bisschen, aber unzureichend, und das führt dazu, dass viele Menschen, die mit Pflege zu tun haben, wirklich eklatante finanzielle Probleme bekommen.
Heise: Und dann haben wir auch in letzter Zeit da den Fall gehört, dann werden beispielsweise Kinder zur Kasse gebeten, wenn das, was die Leute angespart haben oder die Rente eben nicht reichen. In Ihrem Film wird auch jemand zur Kasse gebeten, durchaus moderat, aber was Sie zeigen und was natürlich ebenso wichtig ist, ist, dass der Mann, der Betroffene, sagt: Er muss sich erst mal vorm Amt ganz und gar ausziehen, er muss alles offenlegen und er kommt sich wie ein Betrüger vor. Haben Sie das öfter getroffen?
Wendler: Das haben wir ganz häufig gehört. Es war wahnsinnig schwer, erst mal Menschen zu finden, die über diese Fälle von Elternunterhalt, so heißt das, die darüber reden wollten, weil es ein wahnsinnig peinliches Moment hat: Man möchte für die eigenen Eltern nicht aufkommen. Da will natürlich kaum einer in der Öffentlichkeit zu Stellung beziehen. Und das wesentliche Problem sind dabei meistens nicht die Zahlungen, die geleistet werden müssen, weil da sind die Freibeträge wirklich sehr hoch, sondern das Moralische, was damit einhergeht: Warum verweigere ich meinen Eltern diese Leistung, warum nimmt die Gesellschaft mich in Anspruch? Das bringt die einzelnen Leute in ganz große Konflikte.
Heise: Wenn wir noch mal einen Moment beim Thema Finanzen bleiben, Sie schneiden auch das Thema an, dass sich mit Pflegeeinrichtungen als Investor zumindest auch ganz gut Geld verdienen lässt, was dann allerdings vom Betreiber anderswo eingespart werden muss, Stichwort Personal, oder eben hereingeholt werden muss, Stichwort Zahlungen. Geld zu verdienen oder Geld mit Pflege zu verdienen ist aber auch nicht verboten.
Wendler: Nein, selbstverständlich nicht! Man muss auch attestieren, dass ohne die Privatwirtschaft in diesem Bereich das schlicht nicht mehr zu leisten wäre. Das, was bloß viele Experten kritisieren und was ich auch ganz stimmig finde, ist, dass … gerade in so einem Bereich muss die Marge, die man sozusagen an Gewinn erwirtschaften kann, aus ethisch-moralischer Sicht unserer Meinung nach auch begrenzt sein. Also wenn da wirklich 5,5 bis 7,5 Prozent Rendite versprochen werden auf 20 Jahre garantiert, dann sprengt das einfach den Rahmen und dann weiß man auch: Dieses Geld wird bei der eigentlichen Pflege nachher bei den Pflegern wieder eingespart.
Heise: Pflege im Alter, ein Thema, mit dem sich jeder frühzeitig beschäftigen sollte, bei uns im "Radiofeuilleton hören Sie dazu Hauke Wendler, dessen Film heute Abend im NDR dazu läuft. Was mich sehr beeindruckt hat, Herr Wendler, das war beispielsweise ein sehr, sehr ehrliches Gespräch, was Sie gefilmt haben zwischen Mutter und Tochter, da geht es um Heimunterbringung, da geht es um schlechtes Gewissen, um Trauer, aber auch um Einsicht: Die Mutter soll jetzt also dann letztendlich doch ins Heim. Am Ende sind die pflegenden Angehörigen, die ihren Job eingeschränkt oder aber auch aufgegeben haben, eben im eigenen Alter ja auch total schlecht dran, das kommt dabei nämlich auch raus, denn die kann ja gar nicht für sich vorsorgen.
"Wirres System Pflege in Deutschland"
Wendler: Das, finde ich, ist das eigentlich Dramatische bei diesem Thema. Sie haben ja diese erschreckenden Zahlen anfangs schon genannt. Wenn man aber sich das mal anguckt, dieses wahnsinnig komplexe, wirre System Pflege in Deutschland, dann sieht man auch, dass wir für die Zukunft ganz, ganz schlecht aufgestellt sind. Also wir haben heute 2,5 Millionen Pflegebedürftige, wir haben aber in 40 Jahren wahrscheinlich schon 4 Millionen Pflegebedürftige. Das heißt, diese ganzen finanziellen Probleme, die wir haben, werden dann sämtliche Rahmen sprengen. Und deshalb muss jetzt rechtzeitig Vorsorge getroffen werden. Und da habe ich bei den einzelnen Leuten das Gefühl: Okay, die löffeln heute schon eine Suppe aus, die auf uns alle irgendwann zukommt.
Heise: Das System steht vor dem Zusammenbruch, das ist irgendwie das, was so ein bisschen im Hintergrund in Ihrem Film auch immer eine Rolle spielt, eben einfach auch, weil die Anzahl derjenigen, die zu pflegen sind, wächst, und gesellschaftlich eben, wie Sie sagen, auch nicht genügend vorgesorgt ist. Jetzt gerade am vergangenen Wochenende konnte man vom Streit in der großen Koalition wieder lesen um die Pflegereform. Wie ist das Ihrer Meinung nach, ist das der richtige Weg – die Pflegesätze sind jetzt erhöht worden, es wird auch bei Dementen jetzt ein anderer Pflegesatz angesetzt, die Pflegeversicherungsbeiträge sind auch erhöht worden – oder ist diese Familienauszeit, die eingeführt werden soll, wird da an der richtigen Stelle etwas installiert?
"Die Politik redet da auch nicht gern drüber"
Wendler: Also nach allem, was wir von den Experten, mit denen wir gesprochen haben für den Film, gehört haben, ist das natürlich ein Schritt in die richtige Richtung, und darum geht es auch erst mal, dass sich da überhaupt irgendwas bewegt. Man muss bei diesem Thema wirklich sagen, was wirklich ganz, ganz schlimm ist, ist: Man hat dieses Thema aus der Öffentlichkeit ausgespart. Jedem von uns, Sie sagten es ja in Ihrer Moderation auch, jedem von uns ist irgendwann bewusst: Es kommt auf mich zu, es kommt auf meine Eltern zu, es kommt auf Menschen zu, die in Zukunft noch viel seltener eine gute Rente haben. Aber wir reden nicht drüber, und die Politik redet da auch nicht gern drüber. Und das ist was, was gar nicht geht, was sich auch ändern muss. Und wenn diese Diskussion am Wochenende schon mal losgeht in die Richtung, zu sagen, wir wollen bei den Angehörigen zum Beispiel nachbessern, dann ist das zu begrüßen, aber es ändert nichts an diesem grundsätzlichen Problem, das das System hat. Wenn da so viel Geld rausgezogen wird, dann haben wir einfach an anderer Stelle das Problem, eine vernünftige Pflege auch finanzieren zu können.
Heise: Lassen Sie uns zum Ende unseres Gesprächs noch mal dazu kommen, was Ihnen eigentlich bei Ihrer doch sehr tiefen Beschäftigung mit dem Thema aufgefallen ist, also was für Tipps können Sie geben? Es ist ja immer individuell, das ist ganz klar, aber beispielsweise: Raten Sie zur anwaltlichen Prüfung bei Unterhaltsforderungen?
Wendler: Also es gibt so ein paar grundsätzliche Fragen. Man kann das so schnell nicht zusammenfassen. Die Kollegen vom NDR haben das extrem gut, finde ich, auf der Webseite zu dem Film zusammengefasst unter ndr.de, aber grundsätzlich kann man sagen bei Elterunterhalt: Man sollte immer einen Anwalt aufsuchen und das prüfen lassen, weil da viele Bescheide falsch sind. Aber das Aller-, Allerwichtigste bei dem Thema Pflege ist einfach: drüber reden! Das muss man machen. Und ich habe das selber erlebt: Als wir damit angefangen haben, zu arbeiten zu dem Thema, habe ich gedacht, okay, das kann auch gar nicht schaden, ich bin 46 Jahre alt, meine Eltern, mein Vater ist 81, dass ich mich damit auseinandersetze. Aber es bleibt dann trotzdem noch ein kleiner Schritt, dass man dieses Gespräch macht und dass man fragt: Wie stellst du dir denn das vor? Und ich war wahrlich erlöst, als ich zum Beispiel dann mitbekommen habe, dass meine Eltern sich da sehr viele und sehr gute Gedanken zu gemacht hatten. Aber es kann halt auch ganz anders sein. Und wenn man mitbekommt, da läuft was falsch, muss man halt frühzeitig sich informieren und handeln.
Heise: Früh genug drüber sprechen also. Hauke Wendler, danke für diese Informationen zum Thema Pflege im Alter. Hauke Wendler und Carsten Raus Film "Kostenfalle Pflege", der läuft heute Abend um 22 Uhr im NDR-Fernsehen.
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