15 fitte und weniger fitte Seniorinnen und Senioren zwischen 60 und 93 treffen sich zur wöchentlichen Bewegungsrunde in der Turnhalle einer Schule.
Alle leiden an Krankheiten und haben das eine oder andere Zipperlein: Osteoporose, Herzprobleme, Gleichgewichtsstörungen, Lungenerkrankungen, Arthrose und Arthritis, Rückenschmerzen, Demenz und und und …
Die junge Trainerin ist engagiert, zeigt aber bei der Stundengestaltung wenig Fantasie.
„Und die Arme gehen hoch. Und wir winken und nicken uns zu! Und wir nicken nach links. Und wir nicken nach rechts. Und wieder nach links.“
Eine Seniorin sagt: "Ich bin schon zwei Jahre hier und immer noch kein Gleichgewicht, ist einfach hoffnungslos bei mir.“
Zentrale Rolle von Gleichgewichtsübungen
Dabei sollten doch gerade Gleichgewichtsübungen im Älterensport neben dem Muskelaufbau eine zentrale Rolle spielen.
„Ich bin die Sophia Bauer, und wir gehen jetzt zusammen zu Frau Elly Böhler. Wir kannten noch die Ausbilderin der ersten Seniorengymnastik, Frau Irmgard Klages.“
Die 92-jährige Elly Böhler und die 81-jährige Sophia Bauer aus Todtnau-Schlechtnau im Schwarzwald sind die einzigen noch lebenden Zeitzeuginnen, die Irmtraud Klages kannten, in ihren Kursen von Beginn an mitturnten und sich später von ihr sogar zu Übungsleiterinnen ausbilden ließen.
Alles begann vor fast genau 50 Jahren, Anfang der 1970-er Jahre. Die Jugend strömte ins Kino und schaute Tanz- und Musikfilme wie „Saturday Night Fever“ oder „Fame“.
Sportstudios schossen wie Pilze aus dem Boden. Die Fitnesswelle mit ihrer Trimm-dich-Bewegung kam in Fahrt.
Nur: An spezielle Angebote für Menschen über 60 dachte damals niemand. Alte Menschen? Das waren dem allgemeinen Verständnis nach nicht agile, fitte, aufgeweckte und muntere Seniorinnen und Senioren. Sondern gemeinhin gebrechliche, schwache, ergraute und erschlaffte Leute.
Vereine zunächst ohne Seniorensportangebote
Obwohl die Gesundheitsförderung traditionell auch zu den Aufgaben von Sportvereinen gehört, schien für Sport und Bewegung und hier insbesondere für spezielle Angebote für Ältere zunächst kein Platz zu sein.
Außer in den Kursen der Sportlehrerin Irmtraud Klages. Unter ihrer Anleitung konnten in den Räumen des Deutschen Roten Kreuzes in Lörrach ab 1972 Ältere ihre Ausdauer verbessern und ihre Muskeln kräftigen. Sie schaffte es durch ihren unermüdlichen Einsatz sogar, Seniorenkurse in ganz Deutschland zu etablieren.
Die Bedeutung von Irmtraut Klages
Irmtraud Klages ist heute in der deutschen Sportgeschichte und Seniorenarbeit nahezu völlig vergessen. Ihr Grab ist anonym. Weder eine Gedenktafel oder Skulptur in Lörrach oder ihrem Geburtsort Würzburg erinnern an ihr Wirken. Schnell sprachen sich die Erfolge des Altersturnens bei Irmtraud Klages herum.
Die Menschen werden zwar älter, gleichzeitig gehen in den letzten Jahren aber die Teilnehmerzahlen bei Seniorensportkursen zurück. Ein Grund: Viele Gesundheits- und Sportorganisationen machen keine professionelle Öffentlichkeitsarbeit und Werbung für Seniorenkurse.
Kurs oft einzige Möglichkeit für Sozialkontakte
Ein weiterer Grund: Hört ein Trainer oder eine Übungsleiterin auf, mit dem oder mit der man als Teilnehmer zusammen alt geworden ist, findet sich oft kein Nachfolger oder keine Nachfolgerin.
Für viele ist der wöchentliche Bewegungskurs mit anschließendem Beisammensein die einzige Möglichkeit, Sozialkontakte zu pflegen. Es wird getratscht, gelacht, gemeckert - Lebenserfahrungen werden ausgetauscht.
"Teilweise sitzen die in den Heimen, die werden fertig gemacht, so die Grundbedürfnisse. Dann sind die sich selbst überlassen."
Heimeinweisung durch Bewegungen vermeiden
Alltagsbewegungen könnten vielen auch die mehrheitlich gehasste Heimeinweisung ersparen. 70 Prozent der Älteren wollen ihren Lebensabend nämlich am liebsten zu Hause verbringen.
Alle Versicherten haben Anspruch auf von den Krankenassen bezahlte Präventions- und Rehasportkurse - maximal 50 Stunden pro Verordnung. Obwohl gerade Rehasportkurse teure Operationen und Behandlungen vermeiden helfen und die Kassen bei der Bewilligung große Ermessensspielräume haben, weigern sich viele Sachbearbeiter, den Patienten die sehr geringen für einen zweiten, dritten oder gar vierten Kurs zu erstatten. Oft bleibt dann nur der Rechtsweg.
Sturzgefahr steigt im Alter stark an
Zweifellos sollten Gleichgewichtsübungen den größten Teil einer Seniorensportstunde füllen, da die Sturzgefahr geradezu dramatisch im Alter steigt.
Die Folgen von Stürzen sind die häufigsten Gründe für den Verlust der Selbstständigkeit, die Einweisung in ein Heim und sogar früheres Ableben, resümieren Orthopäden und Geriater wie Rainer Wirth, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie. Doch die Ausbildungen von Trainern und Übungsleiterinnen für Sport mit Älteren weisen große Lücken auf.
Für Stürze gibt es verschiedene Ursachen
Wichtig ist, nicht nur Gleichgewichtsstörungen, sondern auch alle anderen möglichen Ursachen für Stürze in den Blick zu nehmen. Ernährungsfehler, Stress und Depressionen, falsches Schuhwerk oder Medikamente, Sehstörungen, Osteoporose oder eine vielleicht noch unentdeckte Parkinsonerkrankung, ein Herzfehler oder eine Demenz oder oder oder.
Ich als Geriater wünsche mir auch, dass es gerade für die gebrechlichen Hochbetagten mehr Angebote gibt. Die Patienten sind auch bereit, so etwas zu bezahlen. Es gibt auch niemand, der sie fachgerecht anleitet. Da muss es in Zukunft deutlich mehr Angebote geben.
Rainer Wirth, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie
Überhaupt fehlt es an Bewegungsangeboten für Menschen mit Mehrfacherkrankungen. Jeder Dritte über 65 leidet daran. Wie schon der damalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie, Rudolf Schütz, in diesem 40 Jahre alten Fachvortrag resümiert:
"Altern ist keine Krankheit, sondern ein physiologischer Rückbildungsvorgang. Der altersbedingten Zunahme der Erkrankungsbereitschaft ist präventiv aber auf mancherlei Art und Weise zu begegnen."
Bewegung kann Erkrankungen verhindern
Nämlich auch und gerade mit Bewegung. Doch haben Übungsleiterinnen und Rehasporttrainer in Vereinen oder Fitnessstudios die erwähnten vielfältigen, altersbedingten Begleiterkrankungen so im Blick, um den Patientinnen und Patienten individuell gerecht werden zu können?
Weder gibt es von den Sportverbänden bis heute flächendeckende standardisierte Fortbildungen für geriatrischen Seniorensport noch spezielle Ausbildungen des Deutschen Behinderten- und Rehasportverbandes, DBS, der größten Dachorganisation für ambulanten Rehasport.
Übungsleiter oft ohne Ausbildung
Schlimmer noch: Nicht wenige Vereine lassen sogar gänzlich unausgebildete Übungsleiter und Trainerinnen Seniorensportgruppen leiten. Ein absolutes Unding findet Desireee Schrader, Physiotherapeutin und Fachübungsleitern für Sport der Älteren beim Turnverein Bergisch Gladbach-Refrath:
"Das finde ich schwierig, ich finde es nicht 100-prozentig verantwortungsvoll. Eine gewisse Vorbildung sollte man schon haben."
Gab es vielleicht wenigstens auf der letzten weltgrößten Messe für Fitness, Sport und Gesundheit, der Fibo, Fort- und Weiterbildungsangebote im geriatrischen Seniorensport? Fehlanzeige!
Fibo-Messe richtet sich vor allem an Jüngere
Auch die Messe ist ganz auf ein jüngeres und eher fittes Publikum ausgerichtet. In einer Halle gab es immerhin Vorträge über Sport, Bewegung und Ernährung im Alter.
Professor Wilhelm Bloch, Sportmediziner an der Deutschen Sporthochschule in Köln:
Wenn Sie trainieren, haben Sie mehr Abwehrzellen im Blut. Also Sie produzieren im Muskel auch Nervenwachstumsfaktoren. Und diese Nervenwachstumsfaktoren haben Einfluss auf die Entwicklung neuer Gehirnzellen - und das hat direkten Einfluss auf die Kognition. Zum Schluss noch kurz auf die Muskulatur, die Skelettmuskulatur: Wir haben auch schon gehört, dass Muskulatur im Alter abnimmt und dass wir einiges machen müssen. Wenn wir das nicht machen, dann gibt es Gebrechlichkeit.
Wilhelm Bloch, Sportmediziner an der Deutschen Sporthochschule in Köln
Sportwissenschaftler Wilhelm Bloch geht auf die Bedeutung von Sport im Alter ein.© Deutsche Sporthochschule Köln
Die Pflichten für Seniorenheime
Betreiber von Seniorenheimen sind weder verpflichtet, auf die speziellen Ernährungsbedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner einzugehen, noch irgendwelche Bewegungsangebote zu machen.
„Paragraf 7 Leistungspflichten: Der Unternehmer ist verpflichtet, dem Verbraucher den Wohnraum in einem zum vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zustand zu überlassen und während der vereinbarten Vertragsdauer in diesem Zustand zu erhalten sowie die vertraglich vereinbarten Pflege- oder Betreuungsleistungen nach dem allgemein anerkannten Stand fachlicher Erkenntnisse zu erbringen.“
Der Stand fachlicher Erkenntnisse
Was aber ist der anerkannte Stand fachlicher Erkenntnisse? Und warum bleibt es dem Betreiber überlassen, welche Erkenntnisse er umsetzt oder nicht umsetzt?
Frage an den Pflegemanager Oskar Dierbach:
„Der Gesetzgeber hat bewusst das Anforderungsprofil der Versorgung sehr schwammig formuliert. Andererseits aber die personellen Mittel nicht zur Verfügung stellt, um das erfüllen zu können. Er weiß um die Spannung zwischen Soll und Haben, und deshalb gibt es so Allgemeinformulierungen wie „nach dem besten Stand pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse“ oder "aktivierende Pflege", da kann man von 0 bis 100 sich alles drunter vorstellen. In der Realität sieht es ja so aus, dass die personellen Ressourcen fehlen, um es leisten zu können.“
Mülheimer Heim schreibt Pflegegeschichte
Oskar Dierbach blickt auf eine nunmehr 36-jährige Erfahrung im Pflegebereich zurück und war bis vor kurzem Leiter des Hauses Ruhrgarten in Mülheim an der Ruhr. Das Seniorenheim verfolgt einen anderen, ganzheitlichen Pflege- und Betreuungsbegriff und hat damit ein großes Stück Pflegegeschichte geschrieben.
Mit Bewegungsangeboten, Ernährungsberatung und sozialpsychologischer Ansprache werden die Bewohnerinnen und Bewohner körperlich und geistig fit, beweglich und mobil gehalten, sodass sie, falls möglich und gewünscht, sogar wieder nach Hause zurückkehren können.
Wenn aber Personal fehlt - warum gehen die Altenheime nicht zumindest auf die örtlichen Sportvereine zu oder diese umgekehrt auf die Altenheime? Warum kooperiert man nicht miteinander?
Sicher gäbe es genügend Übungsleiterinnen oder Übungsleiter, die für ein Mittagessen, ein Stück Kuchen mit Kaffee und freudige und glückliche Gesichter ein- oder zweimal die Woche eine Bewegungsrunde organisieren würden. Hier ist noch viel Luft nach oben.
Dass am Ende aller Tage eine rehabilitative Pflege volkswirtschaftlich sich rechnet und günstiger ist, als die Regelversorgung des Verwahrens bis der Bestatter kommt, dass es Sinn macht, human Sinn macht und auch wirtschaftlich Sinn macht und am Ende aller Tage sogar dadurch der Beruf in der Pflege attraktiver wird, weil Mitarbeiter sehen, dass ich fachlich was drauf habe. Deshalb geht es diesen Menschen besser, als es ihm ging. als ich ihn kennnenlernte. Jetzt gibt es aber in dieser Freude einen Wermutstropfen. Wir haben in Deutschland ganz handfeste lobbyistische Interessen, warum man die Lebensverbesserung der Menschen nicht will. Und dieses Interesse ist darin begründet, dass man Geld daran verdienen kann, wenn Leute ins Bett gelegt werden und einen hohen Pflegegrad bekommen.
Pflegemanager Oskar Dierbach
Neue Modellprojekte der AOK
Dierbach konnte schließlich die AOK Rheinland/Hamburg von seinem Konzept überzeugen. Seit Kurzem führt die Kasse an zwölf Standorten wissenschaftlich begleitete Modellprojekte durch. Sie stellen die Gesundheit, Lebensqualität, Würde und Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen in den Mittelpunkt.
Regelmäßige Bewegungsangebote sollen dazu beitragen, die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit nicht nur zu erhalten, sondern zu verbessern.
Matthias Mohrmann, der Vorstandsvorsitzende bei der AOK Rheinland/Hamburg
„Wir bezahlen im Moment nach Pflegeintensität - und wir setzen wenig Anreize, Funktionen zu erhalten, Mobilität auch zu erhalten. Ich glaube, da müssen wir unser System verändern und andere Anreize setzen.“