Pflegeheim-Leiter Marcus Jogerst-Ratzka

"Sie können mit schlechter Pflege viel Geld verdienen"

33:00 Minuten
 Porträt von Marcus Jogerst-Ratzka im Garten.
Pflegeheimleiter Marcus Jogerst-Ratzka: "Wir sind nicht das Pflege-Schlaraffenland". © privat
Moderation: Tim Wiese |
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Wohnküche, gemeinsames Wohnzimmer, zusammen kochen: Das Leben in den Pflegeheimen von Marcus Jogerst-Ratzka erinnert eher an eine Alten-WG. Deshalb nennt der Ex-Pfleger sie auch lieber „Altenlebeheime“. Für die gute Betreuung verzichtet er auf Profit.
Marcus Jogerst-Ratzka betreibt und leitet zwei Altenlebeheime. Kein Schreibfehler, der gelernte Pfleger nennt seine Häuser im badischen Renchen ganz bewusst nicht Pflegeheime. Die Begründung klingt plausibel. Für die meisten Bewohner sei das Heim die letzte Lebensstation.
„Aber nichtsdestotrotz ist es Leben. Und darauf muss man sich konzentrieren.“

Wie in einer WG

Die Einrichtungen von Jogerst-Ratzka unterscheiden sich daher von üblichen Pflegeheimen. Besonders im Alltag der Bewohner sei das zu spüren. Wer ausschlafen wolle, der könne das tun, ebenso habe man mit langem Aufbleiben kein Problem.
Der Alltag in den „Lebeheimen“ sei durchaus mit dem Alltag in einer WG zu vergleichen. Auf jeder Station gebe es eine Wohnküche, dazu ein gemeinsames Wohnzimmer. Wer dazu in der Lage ist und Lust hat, kann sich beim Kochen beteiligen.
„Wir versuchen, uns mit unseren Aktivitäten ein bisschen am Alltag zu Hause auszurichten, im Rahmen der Möglichkeiten.“ Auch Essenswünsche seien willkommen. Und da sich die Einrichtungen von Jogerst-Ratzka in einer ländlichen Gegend befinden und „die Menschen in Baden großen Wert aufs Essen legen“, seien Käsespätzle, Rouladen oder Sauerbraten häufig auf dem Speiseplan zu finden.     

Auf Gewinn verzichtet

Das Verhältnis zwischen den Bewohnern und dem Personal beschreibt der Pflegeheim-Leiter als „familiär“, der Krankenstand sei niedrig, die Leute engagiert. Nicht jede Überstunde werde aufgeschrieben.
Das überrascht, denn in der Pflegebranche dominieren seit Jahren die Meldungen von unzufriedenem Personal und unhaltbaren Zuständen. Selten kommen Berichte daher ohne den Begriff „Pflegenotstand“ aus.
Er zahle nach Tarif, beteuert Marcus Jogerst-Ratzka, daran könne es also nicht liegen. Auch nicht daran, dass seine Einrichtung teurer sein. Aber, so erklärt der 46-Jährige, „wir haben von Anfang auf einen guten Personalschlüssel Wert gelegt. Und da ist es so, dass wir auch ein bisschen auf unseren Profit verzichtet haben. Und, meine Einrichtungsleitung und ich, wir sind wirklich rund um die Uhr erreichbar. Ich glaube, das gibt den Mitarbeitern auch ein Stück Vertrauen. Das ist eigentlich ganz elementar“.

Lobbyist für die Pflege

Es scheint absurd, aber weil sich Jogerst-Ratzka seit Jahren für angemessene Arbeitsbedingungen einsetzt, sich für lebenswerte Heime engagiert, also eigentlich für Selbstverständlichkeiten, wird er oft als „Pflegerebell“ bezeichnet. Die Bezeichnung „Lobbyist für Pflege“ treffe es besser.

Ich nehme kein Blatt vor den Mund. In unserer Branche hat viel zu lange das Schweigen vorgehalten.

Marcus Jogerst-Ratzka, Pflegeheimleiter

Und wenn man Jogerst-Ratzka nach der Pflegesituation in Deutschland fragt, dann bekommt man deutliche Antworten. Er spricht von einer „Pflegekatastrohe“. Schon heute würden in deutschen Krankenhäusern und Heimen 200.000 Pflegekräfte fehlen, 2030 eine halbe Million, wenn die Entwicklung so weitergehe. Und er habe wenig Grund zu Annahme, dass sich daran bald etwas ändern werde.

"Wir sind nicht das Pflege-Schlaraffenland"

„Es ist immer nur schlimmer geworden, jetzt auch durch die Pandemie. Ganz ehrlich, ich habe nicht viel Hoffnung, dass die Ampelkoalition daran etwas ändern wird.“ Dabei erwarte er gerade von der Politik einen „Projektplan, der sagt, wie wir aus dieser Situation herauskommen, mit überprüfbaren Meilensteinen“. Selbst die Anwerbung von ausländischen Pflegekräften könne das Problem kaum lindern.
„Das wäre vielleicht ein goldener Weg, wenn wir hier das Pflege-Schlaraffenland wären. Aber dem ist nicht so. Wir sind inzwischen schon fast verschrien für unsere Arbeitsbedingungen.“
All dies sei auch dem Gesundheitsministerium bekannt sein, sagt Jogerst-Ratzka. Stattdessen würde es immer noch weitere Untersuchungen geben. „Wir müssen aufhören zu untersuchen, wir müssen endlich machen.“
Der Pflegeheimleiter plädiert daher für ein Einstiegsgehalt von 4000 Euro, fordert dazu einen verbesserten Personalschlüssel.

"Es ist eine Ehre"

Jogerst-Ratzka arbeitete nach seiner Ausbildung zum Krankenpfleger erst in einem Krankenhaus, später in der Altenpflege. Auch als Unternehmensberater in der Pflege war er kurz tätig.
Mit 31 gründete er sein erstes Pflegeheim. Er hatte viele Ideen, aber kein Eigenkapital. 4,5 Millionen musste er finanzieren, die Banken lehnten zunächst ab. Am Ende half der Vater aus.
„Er hat mir seine Altersvorsorge gegeben. Dafür bin ich ihm bis heute dankbar.“ Seine Kredite hat der Pflegheimleiter bis heute nicht abbezahlt. „Sie können mit guter Pflege eigentlich nicht viel Geld verdienen, mit schlechter Pflege schon.
Doch bei aller Kritik am System, vom Pflegeberuf sei er noch immer begeistert.

„Wir begleiten die Menschen in den freudigsten Momenten, auch in den traurigsten. Wir sind unglaublich nah am Leben dran. Es ist eine Ehre, das erleben zu dürfen.“

Marcus Jogerst-Ratzka, Pflegeheimleiter

(ful)
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