Legt die neue Pflegeausbildung die Latte zu hoch?
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Die bislang getrennten Ausbildungen Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege sollen künftig durch einen Abschluss ersetzt werden. Das Ziel: mehr Flexibilität, höhere Löhne und Minderung des Pflegenotstands. Doch in der Realität sieht das anders aus.
Jaqueline glaubt, schon gut Bescheid zu wissen über die neue generalistische Ausbildung. Am Rande der Karrieremesse "Pflege und Gesundheit" des Donnersbergkreises im nordpfälzischen Rockenhausen erzählt die 15-Jährige, sie bereite sich schon lange darauf vor, dass sie in die Pflege gehe. Die neue Ausbildung Pflegefachfrau/Pflegefachmann habe sie sich schon angeschaut, als es noch offen war, ob es das überhaupt irgendwann geben wird. "Jetzt gibt es das, und ich weiß auch, wie das funktioniert und wie man da am besten in drei Jahren zurechtkommt", sagt sie.
Drei Jahre dauert die Ausbildung, die zuvor getrennte Wege in die Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege zusammenfasst. Mit der Generalistik, wie die neue Einheit heißt, sollen die künftigen Pflegefachkräfte lernen, Menschen aller Altersstufen und Lebenslagen zu betreuen. Ob mit Kinderkrankheiten oder Altersschwäche, ob auf der Krankenhaus-Intensivstation oder zuhause. Das soll die Absolventen flexibler einsetzbar machen, den ganzen Berufszweig aufwerten, am Ende sogar die Löhne steigen lassen und den Pflegenotstand mildern. So jedenfalls die Vision. Die aber bei den Bewerbern nicht recht verfängt. Jaqueline spricht beharrlich davon, dass sie Kinderkrankenschwester oder Altenpflegerin werden will. Was sie bislang aufgeschnappt hat: "Im dritten Jahr kann man sich dann spezialisieren auf eine bestimmte Sache, wie zum Beispiel Altenpflege. Und Kinderkrankenschwester kann man zum Beispiel in Bad Kreuznach machen."
Sich im dritten Jahr auf wahlweise Alten- oder Kinderkrankenpflege spezialisieren: Das geht zumindest vorläufig noch. Denn im zähen Ringen mit dem Koalitionspartner SPD hat sich die CDU damit durchgesetzt, dass nur die Krankenpflege komplett in der Generalistik aufgeht. Alten- und Kinderkrankenpflege bleiben als Spezialisierungsoptionen fürs dritte Jahr erhalten. Private Anbieter, vor allem in der Altenpflege, so hört man, hätten darauf gedrungen. Um auch Personal mit einfacherer Qualifikation zu haben – und zwar kostengünstigeres. Doch dieser Reformkompromiss im Pflegeberufegesetz macht die Sache für Interessenten kompliziert. Denn "Spezialisierung" klingt attraktiv, nach Premiumvariante der Pflegeausbildung. Doch genau das ist es nicht. Sondern, salopp gesagt, eher eine Hintertür für diejenigen, die vor den hohen Anforderungen der generalistischen Ausbildung kapitulieren.
So abwertend formulieren es die Beraterinnen des Bundesamtes für Familie an ihrem Stand auf der Ausbildungsmesse im pfälzischen Rockenhausen zwar nicht. Aber den aufwertenden Begriff "Spezialisierung" meiden sie, sprechen lieber von "gesondertem Abschluss".
Nur als Generalistin nicht zur Hilfskraft degradiert
"Am Anfang steht in euren Ausbildungsverträgen, dass ihr Pflegefachfrauen werdet. Und erst wenn ihr euch dann entscheidet, einen der gesonderten Abschlüsse zu wählen, also Gesundheits- und Kinderkrankenpflege oder Altenpflege, wird der Ausbildungsvertrag nachträglich verändert", erläutert Beraterin Silke Sommerer der 15-jährigen Jaqueline: Die schüttelt verständnislos den Kopf. Das hatte man ihr zuvor ganz anders erklärt. Kinderkrankenschwester – künftig doch kein spezialisierter Premium-Abschluss, sondern eher die Schmalspur-Variante? Eine Erkenntnis, die das Mädchen erstmal verdauen muss.
Sommerers Beraterkollegin Susanne Arenz wundert sich, wie vielen Falschinformationen Bewerber aufsitzen, Jaqueline ist da nicht allein. Gegenüber einer älteren Interessentin, die ebenfalls den gesonderten Abschluss Kinderkrankenpflege anstrebt, nimmt Arenz kein Blatt vor den Mund:
"Wenn ich auf den gesonderten Abschluss gehe, habe ich keine EU-weite Anerkennung und ich bin nicht Fachkraft im Bereich der Akutpflege und nicht im Bereich der Altenpflege."
Nur als Generalistin, also Fachkraft in allen Bereichen, kann man den Job in der Pflege wechseln, ohne zur Hilfskraft degradiert zu werden.
Die Interessentin dankt für die Klarstellung und zieht weiter. An einem der nächsten Messestände stößt die Mittdreißigerin auf eine etwa gleichaltrige examinierte Pflegefachkraft von der protestantischen Altenhilfe Westpfalz. Annika Werst wird die Azubis ab Sommer anleiten und freut sich darauf. Bewerbern, die Respekt oder sogar Angst haben vor der Stofffülle und den Erwartungen an selbständiges Lernen, spricht Werst Mut zu.
"Ich denke schon, dass die Anforderungen an unsere Schüler durch die Generalistik gestiegen sind." Doch der Beruf – egal ob Kranken- oder Altenpflege – sei auch vorher schon anspruchsvoll gewesen. Dem müsse in der Ausbildung auch Rechnung getragen werden. "Man kann nicht jeden ans Bett stellen und Menschen eigenverantwortlich versorgen lassen." Das müsse die Ausbildung dementsprechend abbilden. "Das ist ja auch eine Aufwertung. Und das wollen wir ja. Wir wollen ja aufgewertet und zur Profession werden!"
Zu erreichende Kompetenzen sehr ambitioniert
Von der Ausbildungsmesse im pfälzischen Rockenhausen ins Trierer Krankenhaus der Barmherzigen Brüder. Dort beginnt der neue Ausbildungsgang im April. Die Pflegeschule des Brüder-Krankenhauses leitet Andreas Okfen. Dass die Generalistik zum EU-weit gültigen Abschluss führt, begrüßt auch Okfen als Aufwertung. Aber was das Niveau der neuen Ausbildung angeht, da hat er größere Bedenken als die junge Anleiterin in der Altenpflege.
"Wer sich das Gesetz mal angeschaut hat, wird feststellen, dass allein die Kompetenzen, die in der Zwischenprüfung nach zwei Jahren erreicht werden sollen, sehr ambitioniert sind. Da ist wirklich die Frage, ob die Latte etwas hoch liegt für viele Absolventen. Die Frage ist immer, dass möglichst viele Menschen auch über die Latte springen können – und gleichzeitig eine gute und sichere Pflege gewährleistet ist."
Der Trierer Pflegeschulleiter wünscht sich, dass beides gelingt. Denn es sei richtig, dass Kranken-, Alten- und Kinderkrankenpflege jetzt zusammenkommen. "Wir haben einfach einen Mix an Klientel in der Akutpflege, sprich Krankenhaus: Da kommt der ältere Patient, häufig demenziell verändert, der einer speziellen Betreuung bedarf. Zum anderen haben wir in den Altenhilfeeinrichtungen, also in den klassischen Altenheimen, Bewohner, die Diabetes haben, die offene, chronische Wunden haben." Hier gebe es eine große Schnittmenge, bei der die Kompetenzen, die man in der Generalistik erlangen könne, zum Tragen kämen.
Selbstgesteuertes Lernen gefragt
Wer als Azubi seinen Ausbildungsvertrag mit dem Trierer Brüder-Krankenhaus abschließt, ist zwar überwiegend dort eingesetzt, macht daneben aber Praktika in der Alten- und Kinderkrankenpflege, in der Psychiatrie und der Ambulanz. Dafür müssen die Ausbildungsträger ein Netz von Kooperationen miteinander knüpfen. Pflegeschulleiter Okfen fürchtet, dass neben der Kinderkrankenpflege die ambulante Pflege ein Nadelöhr sein könnte. Denn zu erwarten sei, dass mehr Auszubildende auf die ambulanten Pflegestationen zukommen. Ob das zu bewerkstelligen ist, sei schwierig vorherzusagen: "Aber es wird eine Herausforderung werden, auf alle Fälle."
Das sieht man auch beim Deutschen Roten Kreuz Rheinland-Pfalz so. Dessen Altenpflege-Ausbildung beginnt erst im August. Bis zum Sommer glaubt Christiane Treffinger-Leopoldt, DRK-Berufsschulleiterin in Alzey, die nötigen Kooperationen mit anderen Praktikumsbetrieben unter Dach und Fach zu haben.
Die Alzeyer Schulleiterin beim Deutschen Roten Kreuz erkennt eine weitere Herausforderung beim Umsetzen der Generalistik: Mehr Theoriestunden haben die Azubis nicht. Aber eine Menge Stoff muss bis Ausbildungsende in ihre Köpfe. Die Gesetzeslage sollen sie ebenso kennen wie den Stand der Wissenschaft, außerdem ihr Handeln ethisch reflektieren können.
Daraus folgt, so Treffinger-Leopoldt, dass die Schüler zum selbstgesteuerten Lernen, zum Entdecken kommen sollen. "Das heißt, wir werden sehr exemplarisch arbeiten, mit nachgestellten Situationen, die in den Heimen passieren." Und die Schüler müssten dazu befähigt werden, dass sie zum Beispiel von einem Krankheitsbild des Herzens aus in der Lage seien, das weiterzudenken. "Wir können keine drei, vier mehr durchnehmen."
Pflegepädagogin Maria Maas am Trierer Brüderkrankenhaus bestätigt: "Die zukünftigen Pflegefachmänner und –frauen sind breiter aufgestellt. Es geht zulasten der Tiefe." Den Pflegefachkräften von morgen wird Eigenverantwortung für lebenslanges Lernen abverlangt. Das gehört mit zur Reform.