Pflegenotstand im Krankenhaus

Wie Beschäftigte für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen

28:25 Minuten
Streikende Pflegerinnen und Pfleger protestieren vor der Charité vor Corona.
Auch vor Corona forderten Pflegekräfte bereits bessere Arbeitsbedingungen, doch erst die Pandemie hat ihren Forderungen die nötige Schubkraft verliehen. © dpa / Maurizio Gambarini
Von Johanna Tirnthal und Nico Morgenroth |
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"Profite pflegen keine Menschen": Den Pflegekräften, die im Herbst 2020 auf die Straße gehen, geht es nicht nur um eine bessere Bezahlung. Sie fordern eine bessere Personaldecke in Krankenhäusern und eine Abkehr vom Profitdenken im Gesundheitswesen.
"Furchtbar. Man muss es einfach sagen. Es war wirklich viel zu tun, und ich habe jetzt mit meinen Kollegen, mit denen ich gemeinsam Frühdienst hatte, nochmal fünf Minuten dagesessen und gesagt: Wir können einfach nicht mehr!"
Anja Voigt ist eine, die schon lange dabei ist. Sie hat diesen resoluten Schritt einer Frau, die in ihrem Leben schon viel gelaufen ist. Die Intensivpflegerin kommt gerade vom Dienst. Eigentlich hatte sie heute frei.
"Aber wie es so ist", sagt sie. "Eine Kollegin ist krank geworden, man wird angerufen, und dann kommt man."
Das Klinikum Neukölln ist ein langgestrecktes Gebäude. Man weiß nicht so recht, wo der Eingang ist. Überall sind Bauzäune. Es ist Herbst 2020.
"Man weiß ja, wie das ist, mit einer Person weniger zu arbeiten. Also springt man ein. Wir sehen überall, jeder erzählt es jeden Abend in den Nachrichten, es ist zu wenig Pflege da. Da muss man etwas tun. Sonst hat man in fünf Jahren gar niemanden mehr, der pflegen will."

Ein Pfleger für 25 Patienten

Zwei Monate zuvor auf einer Fahrraddemo.
"Wenn wir im Urban-Klinikum Stationen haben, wo nachts eine Person allein zuständig ist für 25 bis 27 Patienten, ist das einfach krass", sagt Tobias Minow.
"Das ist einfach scheiße, und das ist gefährlich. Das ist für die Patientinnen und Patienten gefährlich, und es ist für die Pflegekräfte gefährlich. Das ist ein gutes Beispiel für so eine Banalität, die dafür sorgt, dass einem die Leute wegrennen."
Tobias Minow ist Pfleger in einer Krebsstation. Er rennt nicht weg. Er streikt.
300 Pflegekräfte fahren am Brandenburger Tor vorbei. Auf Fahrrädern kann man gut Abstand halten. Das Bannertragen sieht dagegen eher abenteuerlich aus.
"Was es jetzt braucht, sind nicht Applaus und Merci-Schokolade, sondern feste Personalschlüssel, ein Ende des Fallpauschalen-Systems und eine Aufwertung aller Pflegeberufe", sagt Anja Voigt, eine Demonstrantin.

"Meine Lieblingsforderung ist die Abschaffung der DRGs, also das Finanzierungssystem, so wie es im Moment ist in Deutschland, weil das ja die Ursache allen Übels ist. Wenn das weg wäre, glaube ich, würde sich vieles bessern."

"Fall, fall, Fallpauschale fall!"

Überall steht es, auf Schildern, Bannern und Buttons: Fuck DRG. Fallpauschalen abschaffen. Fall, fall, Fallpauschale fall! Aber was ist das eigentlich? Fallpauschalen. DRGs.
"Das Fallpauschalensystem – DRGs – ‚Diagnosis Related Groups‘", erklärt
Kalle Kunkel. 2012 hat er als Gewerkschaftssekretär die Streiks an der Charité mitorganisiert. Er schreibt eine Doktorarbeit dazu. "Also die DRGs sind im Kern ein Bewertungssystem für medizinische Leistungen."
"Insofern war das die Idee: gleicher Preis für gleiche Leistung", sagt Boris Augurzky, der die "German DRGs" als Ökonom von Anfang an begleitet hat. "Ob jetzt die Geburt in Hamburg ist oder im Bayerischen Wald, es sind dann so 2000 Euro etwa, die dann ein Krankenhaus bei den Kassen abrechnet."

"Es ist eine bestimmte Art und Weise, medizinische Leistung zu bemessen", erklärt Kalle Kunkel, "und zwar, indem man die medizinische Leistung als eine bestimmte Behandlung für eine bestimmte Diagnose definiert. Das hat dann immer einen Code, der eine Mischung aus Zahlen und Buchstaben ist, und dieser Behandlung bzw. Diagnose wird ein Preis zugeschrieben, also ein Eurobetrag."
Boris Augurzky ergänzt: "Man wollte definitiv damit erreichen, die Krankenhäuser stärker in den Wettbewerb miteinander zu schicken, das Krankenhaus dazu anzureizen zu sagen, ‚okay, ich habe für einen Fall einen gegebenen Erlös, und jetzt wäre die Aufgabe, vor allem die Kosten so zu senken, dass auch für das Krankenhaus etwas übrig bleibt. Man macht einen Anreiz, möglichst kosteneffizient zu arbeiten."
Pflegekräfte demonstrieren in Berlin zu Fuß und mit Fahrrädern.
Keine Profite mit unserer Gesundheit: Unter diesem Motto gingen am 17.6.2020 in Berlin zahlreiche Krankenhausbeschäftigte auf die Straße. © imago / Carsten Thesing

Weniger und billigeres Personal

Zum Beispiel so, erklärt Kalle Kunkel:
"Es gibt mehrere Hebel, an denen man ansetzen kann. Der erste und primitivste ist, die Personalkosten durch Outsourcing und Lohndumping zu senken. Der zweite Hebel ist natürlich Personalabbau. Der dritte ist Arbeitsverdichtung für alle. Und das ist was, wo ein ganzer Berufsstand seit 30, 35 Jahren systematisch abgewirtschaftet wird."
"Und der Gesundheitsökonom Boris Augurzky meint: "Also zunächst kann man sagen: Super gemacht! Denn, liebe Krankenhäuser, ihr habt hier wirklich viel Effizienz erreicht. Denn eins muss man sagen: Die Krankenhäuser in Deutschland sind günstig. Wenn Sie schauen, was ein Fall kostet: Da sind wir fast Weltmeister. Das geht fast wie am Fließband zu. Wir in Deutschland haben das perfektioniert und 100 Prozent der Leistungen nach den Fallpauschalen gemacht."
"‘Fabrik‘ beschreibt eigentlich, wie wir da jeden Tag arbeiten. Also das ist so eng getaktet. Der Patient steht echt nicht mehr im Mittelpunkt", sagt Silvia Habekost.
Es ist August. Habekost ist beschäftigt mit Strukturaufbau. Sie sitzt eigentlich nicht gern. Heute macht sie es trotzdem: das Laptop auf dem Tisch, die Sitzbank voller Flyer und Broschüren. Im OP wacht sie als Anästhesiepflegerin über die Narkose der Patientinnen und Patienten:
"Es werden halt OPs gemacht, wo man sich denkt: Sie hätte einfach noch eine Woche schön zu Hause bleiben können und sich verabschieden und nicht dann noch mit 96 in den OP gezerrt werden, wo sie dann halt nichts mehr davon hat. Oder Geburtshilfe. Das Krankenhaus bekommt mehr Geld, wenn sie einen Kaiserschnitt machen, als wenn sie eine natürliche Geburt machen. Wird das jetzt gemacht, weil das das Richtige für das Kind und für die Frau ist? Oder wird das gemacht, weil man es besser abrechnen kann und besser planen kann? Aber bei Behandlungen, die aufwendig sind, die aber besser für den Patienten wären, macht das Krankenhaus Miese."

Vor den Tarifverhandlungen wird mobilisiert

Strukturaufbau heißt, die Kolleginnen und Kollegen zu organisieren, mit ihnen zudiskutieren. Wegen Corona alleine vor dem Laptop. Ein heißer Herbst steht an, mit Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst:
"Dadurch, dass wir so eine Aufmerksamkeit bekommen haben, sind halt viele von meinen Kolleginnen und Kollegen wirklich sensibilisiert und einfach auch sauer, weil die schütten Milliarden in Unternehmen wie die Lufthansa, und wir, die wir denen letztendlich den Arsch gerettet haben – sollen wir da leer ausgehen? Und die Stimmung ist so, dass wir einfach mal richtig angenervt sind."
Habekost wendet sich an einen Teilnehmer der Streikschule: "Mach doch mal den Anfang hier, Michel – schreib doch mal deine Station auf, und dann schreib die ersten fünf Namen auf, die dir einfallen."
"Meine erste Frage war: Gefällt dir die Pflege, so wie sie jetzt ist? Würdest du was ändern? Und wenn ja, was?", sagt Michel.
Es geht nicht nur um mehr Lohn. Silvia Habekost und die anderen wollen keine Finanzierung nach Fallpauschalen mehr. Für eine Petition sammeln sie Fotos von Beschäftigten aus ganz Deutschland.
"Ich habe das jetzt so gemacht", erklärt Habekost. "Die, die gelb sind, sind Verdi-Mitglieder. Da arbeite ich dran, also der Orga-Grad ist jetzt bei 40 Prozent ungefähr. Fallen dir sonst noch weitere Leute ein, Michel?"
"Na, es gibt Jerry vom Krankentransport, der ist sozusagen schon berufsmäßig so umtriebig."
"Außer in der letzten Tarifrunde haben wir den OP eigentlich immer lahmgelegt", sagt Habekost. "Das würden wir auch über mehrere Tage machen. Und wie gesagt, ich hatte eigentlich niemanden, der gesagt hat, die streiken nicht mit. Die Zeit der Bescheidenheit ist jetzt echt vorbei. Schon lange."

Krankenhausstreiks sind eine heikle Angelegenheit

Streiks an Krankenhäusern sind anders als in der Fabrik: aufwendiger, sensibler. Niemand will Patientinnen und Patienten gefährden. Deshalb waren Pflegestreiks lange keine Option. Bis die Beschäftigten keine Wahl mehr hatten.
"2004 war eine schwierige finanzielle Situation für die Charité", sagt die Kinderkrankenpflegerin Ulla Hedemann. "Deswegen ist sie aus dem Arbeitgeberverband ausgestiegen, um Haustarife zu machen, weil damals Haustarifverträge meistens schlechter waren."
2004 führt die rot-grüne Koalition die Fallpauschalen ein. Sofort tritt die Berliner Charité, wie in den folgenden Jahren viele andere Kliniken, aus dem kommunalen Arbeitgeberverband aus. Die finanzielle Lage ist schlecht. Die Lohnkosten sollen sinken. Günstigere Haustarife ersetzen den Tarifvertrag des öffentlichen Diensts.
"Im öffentlichen Dienst haben sonst die anderen für uns mitgestreikt. Das ging ja dann nicht mehr, dadurch, dass wir im Haustarifvertrag waren."
Ulla Hedemann wirft sich 2010 in die Streikvorbereitung. Sie ist da gerade erst mit ihrer Ausbildung fertig:
"Da waren eben viele Diskussionen darum, wie man auch im Krankenhaus streiken kann. Was wir tun müssten, damit wir niemanden gefährden."
Die Idee: Vor dem Streik wollen sie mit der Klinik verhandeln, wie viel Personal es für den absolut notwendigen Betrieb braucht. Eine Notdienstvereinbarung.
"Und dann gab es die Überlegung: Um niemanden zu gefährden, wäre es gut, wenn kein Patient da wäre."
Also auf den Stationen, die bestreikt werden sollen. Das kündigen die Streikenden rechtzeitig an. Dafür verpflichtet sich die Klinik, die Patientinnen und Patienten dort zu verlegen oder, wenn möglich, gar nicht erst anzunehmen. Es funktioniert besser als gedacht.
"Generell war diese ganze Streikwoche wahnsinnig intensiv für alle, weil das eine völlig neue Erfahrung war, ein völlig neues Selbstverständnis: Ich selber kann was bewegen, ich kann wirklich streiken gehen, was ich ja die letzten Jahre, Jahrzehnte nicht konnte, also nicht richtig. Ich kann streiken, ich kann ein Recht voll und ganz wahrnehmen. Das war wahnsinnig nervenaufreibend, aber auch wahnsinnig toll."

11 Wochen wurde in Düsseldorf gestreikt

In den nächsten Jahren geht es nicht nur um Löhne. In mehreren Tarifrunden erstreiten die Pflegekräfte auch mehr Personal. 2017 kehrt die Charité zurück in den kommunalen Arbeitgeberverband. Damit es im Haus wieder ruhiger wird, meint Ulla Hedemann.
"Und dann nahmen die Aktivitäten ziemlich an Fahrt auf", sagt der Gewerkschafter Kalle Kunkel.
"Wir hatten dann in der Folge Auseinandersetzungen in Baden-Württemberg, im Saarland, und dann eine ganz große in NRW, an den beiden Unikliniken in Essen und Düsseldorf."
Das war 2018.
"Die sind dann in eine relativ lange Streikauseinandersetzung gegangen. Ich glaube, es waren zum Schluss 11 Wochen in Düsseldorf, was wirklich sehr lange ist für einen Krankenhausstreik."
Und dann tagt mitten im Streik die Gesundheitsministerkonferenz in Düsseldorf.
"Da waren dann 5000 Pflegekräfte und zwei streikende Standorte anwesend und haben die da ganz schön rund gemacht", so Kalle Kunkel. "Dann kam halt irgendwann ein Eckpunktepapier des Ministeriums, in dem gesagt wurde: Wir lösen die Pflege aus den DRGs raus. Das sind für mich alles Anzeichen dafür, dass die Hegemonie bröckelt."

"Die Idee dahinter war ja, wenn jetzt Pflege außerhalb der DRGs finanziert wird und jede Pflegestelle finanziert wird, dann können die Häuser ja einstellen ohne Ende, sie haben ja jetzt nicht mehr diesen finanziellen Druck. Aber es ist ja niemand da, den sie einstellen könnten. Das muss man sich mal klar machen. Die würden ja vielleicht sogar gerne einstellen. Aber es gibt gar nicht genug Personal. Also hat sich in meiner Arbeitswelt nichts dadurch geändert."
Eine Krankenpflegerin schiebt ein Krankenbett durch einen Flur.
Auf dem Arbeitsmarkt fehlt es an Pflegekräften.© picture alliance / dpa / Marijan Murat
September 2020. Anja Voigt steht auf der Kundgebung am Bahnhof Friedrichstraße, Berlin Mitte. In der Hand die Notizen für ihre Rede. Vielleicht braucht sie sie gar nicht. Dieselbe Rede hat sie schon einmal gehalten. Seitdem hat sich nichts geändert, sagt sie. Im Gegenteil. Gesundheitsminister Jens Spahn hat die Personaluntergrenzen in der Pandemie ausgesetzt. Und die kommunalen Arbeitgeber haben bei den laufenden Tarifverhandlungen eine Nullrunde angeboten. Für drei Jahre.
"Corona hat zwischenzeitlich natürlich deutlich einen Fokus auf den Gesundheitsbereich gelegt", sagt Tobias Minow.
"Und dieser Kontrast zwischen Klatschen und Spucken ist jetzt nochmal viel deutlicher geworden, so hat das heute ein Kollege auf dem Streik genannt. Erst klatschen, dann spucken, weil es sich so anfühlt, wenn man wie jetzt bei den Tarifverhandlungen vom TVöD einfach nichts angeboten bekommt für das, was man jeden Tag leistet."
Auf seinem alten Lastenrad folgt Minow der Demo zum Ku’damm. Dort tagt dieses Jahr die Gesundheitsministerkonferenz.
"Ich bin früher auch nicht streiken gegangen, weil, mein Lebensmittelpunkt ist nicht meine Arbeit. Aber es ist so weit, dass meine Arbeit mich krank macht. Dann habe auch ich keine andere Wahl mehr, als auf die Straße zu gehen."

"Es geht darum, Aktionäre zufriedenzustellen"

"Dann hörte man immer wieder in diesen Krisenzeiten: Gesundheit hat zu 100 Prozent Vorrang, Gesundheit steht vor allem anderen."
Anja Voigt spricht auf der Demo.
"Das finde ich ein bisschen verlogen. Bei uns haben in der Gesundheitspolitik Wettbewerb und Marktlogik Vorrang. Es geht darum, Gewinne zu erzielen, es geht darum, Aktionäre zufriedenzustellen. Es gab viel Applaus für uns, ich gehöre ja zu einem systemrelevanten Beruf. Applaus heilt niemanden!"
"Man hatte eben auch in den 80er-Jahren im gesamten Gesundheitswesen vor allem, Krankenhäuser und auch andere Einrichtungen mehr so über so eine Art Selbstkostendeckungsprinzip finanziert", erklärt der Gesundheitsökonom Boris Augurzky.
"Da waren halt Kosten, die wurden nachgewiesen, dann wurden sie bezahlt und fertig."
"Das heißt im Klartext, Gewinne waren verboten", sagt Kalle Kunkel.
"In dem ganzen System konnten Gewinne gar nicht vorkommen. Das war sozusagen logisch ausgeschlossen."
Gesundeitsökonom Augurzky meint: "Aber man merkte dann bald, da kommt man an eine Grenze. Denn wenn Sie irgendwann Kosten nicht kontrollieren, dann laufen die auch sozusagen über."
Ab 1985 war es für Krankenhäuser erstmals möglich, Gewinne zu machen. Wer unter seinem Budget blieb, durfte den Rest behalten.
"Das Interessante ist, dass die Notwendigkeit dieser Reformen immer damit begründet wurde, dass es eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen insgesamt gäbe und in den Krankenhäusern insbesondere. Diese Kostenexplosion hat es in der Form nie gegeben. Was es allerdings gab – und das ist ein Teil des Problems – ist, dass spätestens ab den 90er-Jahren die Löhne sanken.
Der Anteil der Löhne am Bruttoinlandsprodukt, die sogenannte Lohnquote sank. Das führte dazu, dass tatsächlich die Beitragssätze für die Sozialversicherungen, insbesondere für die Krankenversicherung gestiegen sind."

Sinkende Lohnquote, höhere Versicherungsbeiträge

Die Löhne sanken, die Gesundheitskosten blieben ähnlich hoch. Also mussten die Beiträge zur Krankenversicherung steigen.
Kalle Kunkel sieht das Problem auch nicht bei den Kosten im Gesundheitswesen: "Das hat aber nichts damit zu tun, dass es eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen gab, sondern damit, dass wir ein Problem bei der Entwicklung der Löhne hatten. Dieses Problem wurde aber immer verschoben. Man hat immer so getan, als hätte diese Beitragssatzentwicklung etwas mit der Kostenexplosion zu tun. Was natürlich eine perfide Strategie ist und auch ein Effekt von neoliberalen Politiken, dass man das Sinken der Lohnquote benutzt, um dann noch weitere neoliberale Politiken begründen zu können."
"Und das hat dann dazu geführt, dass man Anfang der Nullerjahre sich entschlossen hat, ein Fallpauschalensystem einzuführen", erklärt Boris Augurzky. "Das bedeutet, ein Krankenhausfall wird definiert: Zum Beispiel, der Blinddarm wird entfernt oder eine Geburt, und für diesen Fall kriegt jedes Krankenhaus das gleiche Geld."
Für jeden Fall gibt es jetzt einen festen Betrag von den Krankenkassen. Wenn das Krankenhaus darunterbleibt, macht es Gewinne. Wenn es mehr ausgibt, hat es ein Problem, meint auch Kalle Kunkel:
"Da muss man wirklich sagen, das war der volle Einschlag der neoliberalen Deutungshoheit. Und dann ist leider halt so, dass Rot-Grün wirklich ein klassischer Fall von progressivem Neoliberalismus war, wo sich die Akteure unglaublich darin gefallen haben, diese ganz vielen smarten Ideen … Da geht es dann immer um Selbstverwaltung und Selbstbestimmung und dem System mehr Autonomie überlassen und so weiter. Aber dass dahinter eine ganz knallharte Kommerzialisierungstendenz steckte, haben die vielleicht gesehen, aber dachten vielleicht, das ist smart so."

Mit den Fallpauschalen kam die Privatisierungswelle

Neoliberalismus heißt viel. Vor allem, dass der Staat sich aus der gesellschaftlichen Gestaltung zurückzieht. Dann müssen Krankenhäuser woanders Geld für Neubauten oder neue medizinische Apparate auftreiben.
"Ein Krankenhaus kann jetzt sagen, ich leihe mir das Geld bei der Bank und zahle der Zinsen", erklärt Augurzky. "Oder das Krankenhaus sagt, da habe ich irgend so einen privaten Kapitalgeber, vielleicht einen Fonds, einen Investor. Der stellt es zur Verfügung, will aber auch was. Wenn Sie diesen Weg offenhalten wollen, dann müssen Sie natürlich Gewinne ermöglichen. Gewinne sind irgendwie immer so eine Art Vergütung dafür, dass jemand Kapital bereitstellt."
Kalle Kunkel betont: "Diese Privatisierung hat dann aber mit der Einführung der Fallpauschalen massiv zugenommen, sodass jetzt inzwischen in Deutschland die Privaten die meisten Häuser haben, so 37 Prozent der Häuser sind in privatem Besitz, sodass die öffentlichen Häuser inzwischen tatsächlich den kleinsten Anteil haben."
"Wenn halt die Bundesländer nicht die Investitionen voll finanzieren, was der Fall ist, dann brauche ich halt entweder von Banken Fremdkapital oder von Investoren Eigenkapital", erklärt Augurzky. "Also wird man eigentlich da reingezwungen."

Zurück auf der Demo.
"Der Neoliberalismus ist im Gesundheitssystem eingezogen. Der Name dafür sind die DRGs, die Fallpauschalen."
Der zweite Streiktag im September. Silvia Habekost hat es geschafft. Von unzähligen Online-Treffen zu einer Bühne mit gutem Sound:
"Vor über zwanzig Jahren wurde begonnen, dieses Krankenhaussystem umzubauen. Patientinnen und Patienten wurden zwar zu Kunden, aber eigentlich wurden sie zu Fällen degradiert. Es kam nicht mehr darauf an, sie so zu behandeln, wie es gut für sie wäre. Sie waren nur noch gut dafür, möglichst viel Erlös zu erzielen."
Krankenhausbeschäftigte aus ganz Deutschland stehen auf dem Ku’damm. 100 Meter weiter tagt die Gesundheitsministerkonferenz. Erste große Transparente mit Fotos von Pflegekräften werden entrollt. Das ist die Petition, an der Silvia Habekost seit Monaten mitarbeitet.
"Das System der Fallpauschalen-Finanzierung ist nicht reformierbar. Es muss abgeschafft werden."
Eine Demonstrantin trägt einen Mundschutz mit der Aufschrift «Krankenhaus statt Krankenfabrik» vor dem Kanzleramt bei der Protestkundgebung von der Partei «Die Linke» im Rahmen der Kampagne «Menschen vor Profite: Pflegenotstand stoppen!».
Wie in einer Fabrik fühlen sich viele Krankenhausbeschäftigte, seit das Gesundheitswesen der Ökonomisierung unterliegt. (Symbolbild).© picture alliance / dpa-Zentralbild / Britta Pedersen

Viel Kritik am Gesundheitsminister

Für höhere Löhne kann man streiken. Aber die Abschaffung der Fallpauschalen ist eine politische Forderung. Dafür zu streiken, ist schwierig in Deutschland. Einfacher ist eine Fotopetition.

"Ich frage jetzt mal in die vier Ecken: Sind denn jetzt alle von unseren schönen Transparenten schon in Gebrauch und verteilt? Oder sind da noch Transparente, die Trägerinnen und Träger suchen? Das sind noch welche, könnt ihr mal winken?"

Wer die Fallpauschalen abschaffen will, hat sich fotografiert. Diese Bilder sind auf lange weiße Transparente gedruckt.

"Genau, da hinten in der Ecke sind noch welche, zu eurer Rechten, zu meiner Linken. Und dort vor dem Starbucks sind, glaube ich, auch noch welche, habe ich grad gehört. Und da hinten an der Ampel sind auch noch welche. Das sind nämlich irre viele, die wir da gemacht haben! Und nun sind wir auf diesen Transparenten, die ihr haltet: über 12.000 Kolleginnen und Kollegen!"

Und dann kommt Jens Spahn. Der Gesundheitsminister läuft durch das Spalier der 12.000 Fotos bis zur Bühne.

"Ich wollte Ihnen grad sagen, ich bin an Ihrer Seite! Wenn Sie es nicht mögen, nehme ich das mit, ich bin trotzdem an Ihrer Seite. Und kämpfe weiter für diese Themen, wie wir es in den letzten zwei Jahren gemacht haben..."

"Du hast nichts verstanden!", rufen die Demonstranten.

"Die Rede vom Gesundheitsminister fand ich eigentlich eine Unverschämtheit", sagt eine Teilnehmerin. "Er rüttelt kein bisschen an den Fallpauschalen, die dafür verantwortlich sind, dass die Krankenhäuser seit Jahren sparen, sparen, sparen. Und das auf den Knochen der Belegschaft."

Und eine andere Demonstrantin kritisiert: "Er hat sich hingestellt und hat gesagt: Kündigt doch, wenn es euch beim Arbeitgeber nicht gefällt, dann geht doch zum nächsten. Was ist das denn für eine Methodik? Nein! Das, was ich rausgehört habe, und das will ich euch jetzt mitgeben: Organisiert euch! Ihr seid diejenigen, die es verändern können!"

"Ich begrüße Sie zur Tagesschau. Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen erhalten mehr Geld. Arbeitgeber und Gewerkschaften verständigten sich in Potsdam auf einen Tarifkompromiss. Extra-Zuschläge gibt es für Pflege und Klinikpersonal. Die höchste Steigerung gibt es für Pflegekräfte. Mit allen Zulagen bekommen Pflegekräfte insgesamt 8,7 Prozent mehr, in der Intensivpflege sogar 10 Prozent."

"Und dann auf einmal gab es dieses Angebot. Da habe ich dann auch gedacht: Hm. Oder das ist ja das, was rausgekommen ist. Ich weiß nicht, was da passiert ist. Manchmal denke ich, Druck auf der Straße reicht vielleicht doch. Da find ich den Abschluss wirklich bemerkenswert für die Zeit. Für die Pflege am Bett ist mehr herausgesprungen, für die Intensivpflege, das ist im Maximum … Für eine vollzeitbeschäftigte Intensivpflegekraft sind das fast zehn Prozent Lohnerhöhung. Wenn alles dann zusammenkommt. Und das ist schon was Ordentliches, sage ich mal."

Ansätze für ein Umdenken?

Anja Voigt ist auf dem Weg nach Hause. Herbstlaub. Es ist ein schöner Tag.

"Aber mittlerweile ist wirklich das Geld im Fokus: Es geht um Abrechnungsfragen, es geht darum, wie lange Patienten liegen, wann lohnt sich eine Beatmung finanziell, wie lange muss die sein, damit sie noch mehr Geld abwirft. Es sind ganze Bereiche in Krankenhäusern geschaffen worden, die gab es vor 20 Jahren gar nicht, ganze Abteilungen, die sich nur mit Abrechnung beschäftigen, die sich nur damit beschäftigen, wie schreibe ich welche Diagnose wie, wo, wann hin, damit es noch ein bisschen mehr Geld bringt. Und das finde ich ein absolutes No-Go."

"Und das ist die effiziente Kostenkontrolle im Gesundheitswesen? Das ist verrückt", sagt dazu Kalle Kunkel.

"Und beim DRG-System, also beim Fallpauschalen-System, merken wir eben inzwischen: Die Kollateralschäden sind durchaus relevant, und wir müssen nachdenken, wie es weitergeht, ergänzt Boris Augurzky.

Mecklenburg-Vorpommern will die Kinderkliniken aus den Fallpauschalen lösen. Und Schleswig-Holstein denkt über eine Grundfinanzierung nach. Auch Jens Spahn will eine größere Reform des Gesundheitssystems. Nach der Pandemie, nach der Bundestagswahl. Und auf eine Diskussion über mehr Selbstkostenfinanzierung könnte er sich einlassen, sagt er. Zumindest theoretisch.

"Meines Erachtens wird der Druck auf das System in den nächsten Monaten und Jahren massiv zunehmen", betont Kunkel. "Und das ist meines Erachtens die Auseinandersetzung, die geführt werden muss, es ist eigentlich ein Kulturkampf um die Frage: Halten wir es für sinnvoll, über Profitanreize unsere Daseinsvorsorge zu steuern?"

Gesundheitsökonom Augurzky ergänzt: "Gewinne setzen den Anreiz, dass ich Personal und die Sachmittel möglichst effizient einsetze. Weil ich ja möchte, dass viel übrigbleibt. Und diesen Anreiz würde ich schon gerne mitnehmen. Deshalb finde ich, ist es okay, wenn man Gewinne ermöglicht."

"Keine Feuerwehr, keine Bibliothek, keine Schule muss Gewinn erzielen – warum Krankenhäuser?", fragt Anna Voigt. "Warum muss man mit der Krankheit von Menschen Gewinne machen? Das erschließt sich mir überhaupt nicht. Gar nicht. Ich finde, mir fehlt die Zeit für alles: für den Patienten, für meine Arbeit, auch für mich selber, mal eine Pause zu machen. Das ist alles nicht drin. Ich bin ja schon eine Weile im Beruf, und vor 30 Jahren war das halt anders. Da war ich viel entspannter, ich kann mich nicht an Dienste erinnern, wo ich völlig erschöpft nach Hause gegangen bin. Das ist jetzt eher der Normalzustand als die Ausnahme."

Anja Voigt steht an der Haltestelle. Kurz bevor der Bus kommt, holt sie ihre Maske raus.

"Das hat mich echt begeistert, dass viele junge Kollegen gesagt haben, wir müssen da jetzt was machen. Ich fand das toll, weil ich kenne das noch anders. Als du mit drei Leuten beim Warnstreik hier vor der Haustür gestanden hast. Insofern tut da sich was, da bewegt sich was."
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, CDU, auf dem Weg zum Podium bei einer Demonstration in Berlin.
Bei der Verdi-Demonstration in Berlin gab es für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, CDU, reichlich Gegenwind.© imago / Photothek / Felix Zahn

Beteiligte
Redaktion: Carsten Burtke
Regie: Cordula Dickmeiß
Technik: Thomas Monnerjahn
Sprecherin: Inka Löwendorf

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