Pflegestufe und Notrufsystem

Von Adama Ulrich |
Ermittlung des Pflegebedarfs, Kostenvoranschlag, Rollstuhl, rollender Mittagstisch - ob drin oder draußen, ob stationär oder ambulant - die Pflege älterer Menschen ist zunächst erst mal ein logistisches Projekt.
Da ist noch keine Minute liebevoller Zuwendung mitgeplant. Die Abrechnung der Altenpflege im Minutentakt lässt dafür keinen Raum. Doch immer mehr Pflegedienste erkennen mittlerweile die Bedeutung des Gesprächs für eine gelungene Pflegearbeit und investieren einen Teil ihrer Zeit in diese Aufgabe.

Pfleger: "So, ich mache Ihnen jetzt mal die Windel ab. Ich muss gucken."
Frau: "Ja. Er sagt zwar es tut nichts weh, aber weiß man’s?"

Herr Renau ist 86 Jahre alt. Vor zehn Jahren hatte er einen schweren Schlaganfall. Seit dem ist er einseitig gelähmt und kann nicht sprechen. Er wird von seiner 81-jährigen Frau gepflegt. Vor kurzem ist er gestürzt und hat sich den Knöchel des gelähmten Beins gebrochen.

"Er war dann 14 Tage in der Klinik auf Intensivstation ... als er da entlassen wurde, habe ich gesagt, ich werde mal versuchen, ob ich es alleine machen kann. Aber es ging nicht, jetzt kann er ja auftreten aber er kann nicht laufen, nichts. Da war so eine nette Oberschwester, die hat gesagt, ich habe eine Adresse, die gebe ich ihnen. Das sind die 'Stadtschwestern'."

Seit dem kommt Pfleger Markus mehrmals täglich. Der 35-Jährige arbeitet seit einem dreiviertel Jahr für den Pflegedienst mit dem Namen "Stadtschwestern". Sieben bis acht Patienten betreut Markus am Tag. Um das zu schaffen, muss jeder Handgriff sitzen – ohne, dass der Patient dabei zu kurz kommt. Eine Gratwanderung.

"Morgens wird er komplett gewaschen, Grundpflege. Mittags kommt jemand zum Windeln wechseln, oder Einlage wechseln und abends wird er fertig gemacht und ins Bett gelegt.
Einmal die Woche wird geduscht. Da gucken wir immer, wann es am besten zum Tag passt, bei mir und bei ihr, weil sie duscht dann auch immer. Und dementsprechend. Von der Zeit sind wir auch gut."

Pflege - zu Hause oder im Heim - kostet Geld, viel Geld. Einen Teil der Kosten übernimmt die Pflegeversicherung.

"Guten Tag, Medizinischer Dienst der Krankenversicherung, Haselmann."

Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung ist unter anderem für die Begutachtung und Einstufung der Pflegefälle zuständig.

"Pflegebedürftigkeit bedeutet, dass man eingeschränkt ist in der Bewältigung der täglichen Tätigkeiten – wie, sich das Essen zubereiten, sich Ankleiden, die Körperpflege auch. (...) Es ist so, dass man über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten pflegebedürftig sein muss. (...) Und bereits für die Stufe I, muss die tägliche Gesamtpflegezeit bei mindestens 90 Minuten liegen. (...)"

Und so geht es weiter. Bei Pflegestufe III muss die Gesamtpflegezeit mindestens fünf Stunden betragen, dann bekommt man den Höchstsatz, den die Pflegekasse zahlt. Er liegt bei 1432 Euro. Herr Renau hat Pflegestufe II, das heißt er bekommt 1279 Euro. Früher, als Frau Renau ihren Mann alleine gepflegt hat, war die Summe ausreichend. Jetzt, wo dreimal täglich der Pflegedienst kommen muss, ist es zu wenig. Darum hat sie Pflegestufe III beantragt. Eine Gutachterin vom Medizinischen Dienst ist schon da gewesen. Auch Pfleger Markus war dabei.

"(...) Bei der Pflegestufe III hat sie gesagt, wäre ein Pflegeaufwand von vier Stunden am Tag notwendig, um diese zu bekommen. Wir pflegen ihn ja nicht allein, die Ehefrau pflegt ihn ja auch mit, und das zählt halt alles zusammen. Aber sie sagt, auf vier Stunden kommt sie nicht. Ich weiß nicht warum, aber da müssen wir jetzt halt abwarten."

"Ich kriege kein Pflegegeld mehr, (...) aber, wenn ich die Pflegestufe III hätte, würde ich auch noch was kriegen und so müsste ich vielleicht noch zuzahlen. Das kann ich nicht. Ich habe zwar Rente und mein Mann hat Rente. Aber die teure Wohnung und alles, nicht!"

Herr Renau ist gewaschen und angezogen. Markus transportiert ihn ins Wohnzimmer, wo er auf einem bequemen Sessel am Fenster den Tag verbringt. Um ihn herum versprüht seine rüstige Frau gute Laune und bemüht sich, ihn wieder aufzupäppeln.

"53 Kilo hat er nur gewogen. Er ist ja Haut und Knochen. Nun füttere ich ihn jeden Tag mit Haferflocken. Das habe ich schon mal gemacht, damals als er aus der Klinik kam."

"Tschüß.
Tschüß.
Bis nachher.
Ja."

Etwa 20 Mitarbeiter arbeiten, wie Markus, für die "Stadtschwestern", die ihren Sitz in Berlin-Steglitz haben. Sie betreuen ungefähr 100 Pflegefälle. Birgit Strutz ist gelernte Altenpflegerin und Geschäftsführerin der "Stadtschwestern". Zusammen mit ihrem Mann, hat sie den Pflegedienst im Jahr 2000 gegründet. Aber ihre Erfahrungen in der Altenpflege reichen weiter zurück.

"Meine Eltern hatten Pflegeheime in Stuttgart und Umgebung und ich bin im Prinzip groß geworden mit älteren und kranken Menschen."

Birgit Strutz weiß, dass der Ruf von Pflegeheimen und die Arbeit vieler Pflegedienste nicht der beste ist. Sie weiß auch, woran das liegt.

"Ich würde sagen, 95 Prozent der Stationen in Berlin sind darauf ausgelegt, den optimalen Profit rauszuholen. ... Manchmal grenzt das wirklich schon an Ausbeutung der Patienten und Ausbeutung der Mitarbeiter. Das machen wir anders. ..."

"Am Telefon hatte seine Schwester das Wort 'Zusammenbruch' gesagt. Als er in der Stadt seiner Eltern ankam, war die Mutter tot. Herzinfarkt, sagte der Arzt. Sie war 83 Jahre alt geworden. Der Vater saß in dem Sessel, in dem er immer saß. Er hatte keine Tränen, er hatte Angst. Die Frau, die in den vergangenen fünf Jahren sein Leben garantiert hatte, war tot. Der Vater saß in seinem Sessel im Wohnzimmer, und oben im ersten Stock des Hauses, das sie am Stadtrand bewohnten, lag seine tote Frau. Der Sohn und die Tochter saßen auf dem Sofa neben ihm. Sie sprachen nichts. Wahrscheinlich waren sie so tief in ihrer Stummheit gefangen, weil jeder wusste, dass eine Frage vor ihnen stand, auf die sie keine Antwort hatten: Wohin mit Vater?"

In letzter Zeit wird das Buch "Wohin mit Vater" in den Medien immer wieder als Beispiel dafür angeführt, wie schlecht es in Deutschland um den Zustand der Altenpflege bestellt ist. Ein Journalist setzt sich darin mit seinen Erfahrungen und Erlebnissen auseinander, die er bei der Suche nach einer geeigneten Pflege für seinen Vater gemacht hat. Untertitel: "Ein Sohn verzweifelt am Pflegesystem." Der Autor bleibt anonym; der Fischer Verlag beschreibt ihn als "Ressortleiter einer deutschen Tageszeitung". Ein namenloser Autor, doch unpersönlich ist das Buch keineswegs, im Gegenteil. Auch er selbst ist Teil dieses Dilemmas, wie er im Interview schildert, das verfremdet ist, um seine Anonymität zu wahren.

"Ich habe mich überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass ich mich um meinen Vater kümmern müsste. Obwohl der ein Pflegefall war, obwohl der über 80 ist und ich wusste, da kann was auf mich zukommen. Ich habe trotzdem nichts getan, weil man sich damit nicht gerne beschäftigt. Man blendet das aus, verdrängt es. Das hat mit dem Sterben zu tun, das hat mit Gebrechlichkeit zu tun, mit schlechten Gerüchen zu tun, mit lauter Dingen, die unangenehm sind. Man weiß, man hat das vor sich. Und das, was ich als private Person gemacht habe, ist ein gesellschaftliches Problem. Wir tabuisieren das auf eine unglaubliche Weise."

Ein Sohn beschreibt die Nöte, in die ihn der plötzliche Tod seiner Mutter stürzt: Würde er den Vater zu sich nach Hause nehmen, müsste seine Frau ihn pflegen. Und sollte seine Schwester es tun, müsste sie ihren Beruf aufgeben. In den nächsten Tagen klappern die beiden Kinder Pflegeheime ab, auf der Suche nach einem neuen Zuhause für den alten Herrn. Freie Plätze finden sie; doch selbst das teuerste Heim wirkt unpersönlich und bietet für stolze 3400 Euro im Monat gerade mal ein karg möbliertes Doppelzimmer:

"Zwei Wildfremde sollten nun, da sie alt und gebrechlich waren, den Rest ihrer Tage gemeinsam auf ein paar Quadratmetern verbringen. Den Lebensrhythmus des anderen teilen, seine Gerüche einatmen, seine Geräusche aushalten, seine Dummheiten anhören und seine Lebensweisheiten, seine Schmerzen mitleiden und seine Schlaflosigkeit, jede Lebensregung und jede Todesangst. Und, wenn es darauf ankam, den anderen mit dem Tod ringen sehen und sterben - im Bett nebenan."

"Dann haben wir gedacht, na gut, dann müssen wir uns professionelle Hilfe holen. Da gibt es ja genügend Dienste, die das anbieten. Wir waren ganz naiv und haben gedacht, wir könnten das bezahlen. Wir konnten es nie und nimmer bezahlen. Der erste Pflegedienst, den ich angerufen habe, der wollte über 10.000 Euro im Monat dafür. Na gut 24 Stunden, das sind drei Pflegekräfte, die sich da abwechseln müssen. Gibt es auch etwas billiger aber immer noch so, dass es unbezahlbar war."

Also haben er und seine Schwester das getan, was etwa 100.000 Menschen zurzeit in Deutschland tun.

"(...) Wir haben eine Pflegekraft aus Osteuropa engagiert. Die ist jetzt seit langer Zeit bei meinem Vater und wir haben, wie man so sagt, eine Perle gefunden. Es ist eine wunderbare Frau, vor der ich ganz großen Respekt habe, wie die das macht. Und meinem Vater geht es gut."

Darin liegt der Grund für seine Anonymität. Denn diese Lösung ist illegal. Die polnische Pflegekraft leistet Schwarzarbeit.
Allzu oft geraten auch Menschen in eine Notlage, wenn sie selbst die Pflege der Mutter oder des Vaters übernehmen. Das schlechte Gewissen hat zwar gesiegt: Pflegeheim und ambulanter Pflegedienst kommen nicht infrage. Doch was, wenn sie selbst am Ende ihrer Kräfte sind und nicht mehr weiter wissen?

"Pflege in Not. Unger."

Dreimal wöchentlich ist Psychologin Dorothee Unger in Berlin telefonisch für Menschen da, die vom Abenteuer Pflege überfordert sind.

"Dass kann entweder den Grund haben, dass sie organisatorisch nicht so gut ausgestattet sind, dass sie die Pflege leisten können. Also, dass die Wohnung nicht entsprechend eingerichtet ist, sie nicht genug Pflegeleistungen zusätzlich bekommen, keine Richtigen Hilfsmittel haben, etc. Da kann man in der Regel relativ leicht helfen. Der andere Teil, bei denen schlägt die Überforderung in Aggression um."

Auch Angehörige, die mit Vorkommnissen in Heimen oder mit der ambulanten Pflege nicht einverstanden sind, können sich beim Pflegenotruf melden.

"Wie eine Tochter, die neulich zu mir sagte, ‚neulich bin ich mal vormittags gekommen statt nachmittags, da saß meine Mutter mittags um 12.00 vor ihrem Essen noch im Nachthemd’. Das hört sich vielleicht harmlos an, aber das ist würdelos."

Angehörige, denen solcherlei Vernachlässigungen auffallen, können sich auch an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung wenden. Neben der Einstufungen der Patienten ist er auch für die Qualitätsprüfung von Pflegeheimen und -diensten zuständig. Die Mitarbeiter kommen, meist angemeldet, mit oder ohne konkretem Anlass und überprüfen, wie die Pflegeeinrichtung organisiert ist, wie die Pflege praktisch aussieht, in welchem Zustand sich die Gepflegten befinden und was diese selbst von der ihnen zu Teil werdenden Pflege halten.

"Die Ergebnisse, die wir bei den Qualitätsprüfungen erzielen, sind sehr heterogen. ... Wir finden exzellente Pflege vor, in einem großen Bereich ordentliche Pflege vor, und wir finden auch Problemfälle vor, in denen Menschen nicht ausreichend gut gepflegt werden."

Bislang werden die Auswertungen der Qualitätsprüfungen nicht veröffentlicht. Ein Missstand – findet auch Hendrik Haselmann.

"Wir würden es sehr begrüßen ... wenn wir die Ergebnisse unserer Prüfungen in geeigneter Form veröffentlichen könnten. Wir glauben, dass das die Möglichkeiten der Versicherten sehr erweitern würde, sich eine Einrichtung auszusuchen. Das wäre eine gute Entscheidungsgrundlage. Und es wäre für die Pflegeeinrichtungen selbst ein guter Maßstab, zu schauen, wo stehen wir und wohin können wir uns verbessern."

"Guten Morgen!"
Einmal hinlegen. Wann haben wir gewechselt? Vorgestern oder.
Wie haben sie denn geschlafen?
Ach, ganz gut eigentlich.
Hilft die Salbe?
Ein bisschen drücken tut’s ja immer noch. Aber ist schon ein bisschen besser."

Frau Salomon ist der zweite Pflegefall auf Markus’ Tour. Sie ist 85 Jahre alt und hat einen künstlichen Darmausgang. Markus wechselt den Behälter mit dem Stuhlgang aus und öffnet das Fenster zum Lüften.

"Riecht ein bisschen. Ist ja nichts anderes, als würde man auf die Toilette gehen."

Seit fünf Wochen kommt Markus zweimal am Tag zu Frau Salomon, die keine Pflegestufe hat.

Markus: "Am Anfang war sie noch nicht so fit, da musste sie noch gewaschen werden. Das macht sie jetzt alles schon ganz alleine."
"Ich bin so eine Natur so. Die Ärzte haben alle gesagt im Krankenhaus: Frau Salomon, sie sind einmalig. Ich will noch leben und ich lebe auch noch. Ich bin so froh und so dankbar. Ich habe viel durch gemacht, wa Markus?"

Markus muss zügig arbeiten, um sein Tagespensum zu schaffen. Er hat heute noch fünf Hausbesuche vor sich. Trotzdem nimmt er sich die Zeit, um mit den alten Leuten zu reden und ihnen zuzuhören. Wenn er mit der Pflege fertig ist, muss er alles, was er gemacht hat, in ein Heft schreiben, das jeder Patient besitzt.

"Das ist das, was auch immer ein bisschen Zeit raubt, die Dokumentation. Aber man muss das ja dokumentieren, was gemacht wird."

Jede zu verrichtende Tätigkeit muss in einem bestimmten Zeitraster erledigt werden. Das ist ein Zustand, der eine menschenwürdige Pflege schier unmöglich macht. Damit beschäftigt sich auch der anonyme Autor in seinem Buch "Wohin mit Vater?". Er berichtet darin über die Erfahrungen, die Markus Breitscheidel gemacht hat, als er in einem Selbstversuch als Pflegehelfer in verschiedenen Heimen gearbeitet hat und seine Erlebnisse in einem Buch veröffentlicht hat. Das Buch ist eine Dokumentation aus der Hölle schreibt unser anonymer Autor. Und weiter:

"Das Besondere ist auch, dass es den Blick auf die Pflegekräfte selbst richtet, auf den enormen Druck, unter dem sie stehen, und darauf, was dieser Druck mit den einzelnen Pflegern macht: Menschen, die so oft mit großem Idealismus ihren Beruf begonnen haben, mittlerweile aber in ihren Anvertrauten bloß noch eine 'Stückzahl' sehen (können), die es 'abzuarbeiten' gilt, so der Heimjargon. Menschen, die Gefangene der Zeitvorschriften sind und unter diesem Diktat keine Minute mehr für ein Gespräch erübrigen können, keine Sekunde mehr für einen Händedruck oder ein aufmunterndes Wort."

"Pflegeheime habe ich als Wartesäle zum Tod gesehen. Menschen, die hier erschreckend anzusehen waren, wie die vor sich hin vegetierten. Dass muss sich ändern, gerade dann wenn wir jetzt immer mehr Alte kriegen und ich glaube, es wird sich auch was ändern. Die werden sich das nicht mehr gefallen lassen. Jetzt kommen die, die mal die so genannten 68er waren in die Pflegeheime. Ich hoffe, sie haben den rebellischen Geist bewahrt und sagen, dass lassen wir uns nicht mehr bieten."

Strutz: "Ich muss das als Gesamtheit sehen, also den Patienten in seiner Gesamtheit. Wir machen das so, dass wir sagen, der Patient entscheidet. So wie er sich seine Station aussucht, so darf er sich auch seine Pflege aussuchen ... und dann wird mit dem Patienten vereinbart, sie sagen uns, wann sie was möchten."

Frau: "Markus, ob ich schon zugenommen habe? Ein bisschen wa?"
Markus: "Kommse."
Frau: "Dit selbe."
Markus: "Fliegengewicht. Ich könnte ihnen gerne zehn Kilo abgeben."

Markus: "So Frau Salomon, wir sehen uns dann heute Mittag, kurz vor Schluss."
Frau: "Am Abend."
Markus: "Nein, abends bin ich heute zuhause. So Gott will."

Frau: "Markus, bis denne ja."
"Tschüßi, Tschüß."