Pflichtenkollision des Staates

Von Florian Felix Weyh · 18.08.2010
Vor vielen Jahren, als Glauben noch geholfen hat, konnte sich der Mensch in prekären Entscheidungssituationen an einen Pfarrer wenden. Der hielt ein Regelwerk bereit, um moralische Fehltritte zu vermeiden. Wir heute denken etwas verächtlich, dass es sich dabei immer nur um verstaubte Sexualmoral handelte, doch diese Ethik ist durchaus alltagstauglich. Zum Beispiel in der Frage, wie der Staat künftig gefährliche Straftäter behandeln soll, die er bislang "sicherungsverwahrte".
Nüchtern betrachtet handelt es sich dabei um das Phänomen der "Pflichtenkollision". Der Staat als moralisches Subjekt steht vor einer Entscheidung, die so oder so negative Auswirkungen haben wird. Seine Pflicht "Sei Rechtsstaat!" führt zur Kollision. Denn als Rechtsstaat muss er die individuellen Freiheitsrechte der Straftäter nach einer Haftverbüßung ebenso respektieren, wie er als Rechtsstaat seine Bürger zu schützen hat. Steckt er gefährliche Haftentlassene in Sicherungsverwahrung, macht er sich der Freiheitsberaubung schuldig. Steckt er sie nicht in Sicherungsverwahrung, bleibt er nur so lange unschuldig, wie nichts Schlimmes passiert. Da aber irgendwann etwas passieren wird, nützt ihm dieses Moratorium wenig. Er genießt eine Unschuld mit zugekniffenen Augen – umso größer wird der Schuldvorwurf nach einem Vorfall sein, denn dann hat jeder das Unglück kommen sehen.

Aus dieser Pflichtenkollision kommt der Staat nicht heraus. Also versucht er, sie mit Riesenaufwand praktisch zu umgehen: Dutzende Polizisten sorgen für eine Rundum-Überwachung. Aber ist das der richtige Weg? Nein! Denn die abendländische Ethik hat für die Pflichtenkollision brauchbare Orientierungsregeln entworfen. Zunächst besagen diese, das höhere Gut habe Vorrang vor dem niederen. Dann konstatieren sie eine Priorität der naturrechtlich begründeten Pflichten vor dem positiven Gesetz und schließlich die Priorität des Verbots vor dem Gebot.

Aus alledem lässt sich eine überdeutliche Präferenz für die nachträgliche Sicherungsverwahrung schwerer Gewaltverbrecher herauslesen. Unversehrtes Leben ist ein höheres Gut als Freiheit (ja ohne Leben fehlte dem Freiheitsbegriff sogar das Fundament, auf dem er sich entfaltet). Die naturrechtliche Pflicht, Leben zu schützen, überwiegt ethisch den auf positivem Recht basierenden Spruch eines europäischen Richterkollegiums. Und das Verbot von Gewaltanwendungen ist ungleich stärker als das Gebot der Gleichbehandlung von Ex-Häftlingen mit normalen Bürgern.

Eine klare Sache? Leider nein. Der Pferdefuß steckt im Wörtchen "irgendwann". Ein Teil der Pflichtenkollision beruht nämlich auf der Wahrscheinlichkeitsannahme, dass es zu einem erneuten Verbrechen kommt, und die unterminiert unser klassisches Verständnis von Tat und Täter: Wenn man nicht weiß, wer etwas wann tut, kann man weder vorbeugen, noch strafen. Diese auf Statistik basierende Annahme sprengt den Rahmen der abendländischen Ethik, weder Kant noch Thomas von Aquin kannten die Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Genau darum stehen wir jetzt so ratlos da, denn die Wirklichkeit der hochkomplexen Welt des 21. Jahrhunderts verlagert Entscheidungen immer mehr in den statistischen Raum. Schuld und Unschuld lassen sich dort nur noch unscharf bestimmen. Unsere Gesetze aber basieren auf absoluten Annahmen: Mord ist auch dann strafbar, wenn er so gut wie nie vorkommt; für die Normsetzung spielt die Zahl etwaiger Vorfälle keine Rolle.

Bei der Sicherungsverwahrung hingegen entscheidet die Potenzialität des Verbrechens. Aus der damit verbundenen Zwickmühle kommen wir nur heraus, wenn wir den Lösungsansätzen zur Pflichtenkollision statistische Erwägungen hinzufügen: Wo soll die Wahrscheinlichkeitsannahme – zu welchem Prozentsatz? – künftig in der Bewertungshierarchie stehen, etwa auf Höhe eines Naturrechts oder weit unterhalb davon? Das ist eine gesellschaftliche Entscheidung. Bevor wir sie nicht getroffen haben, werden wir aus Pflichtenkollisionen der geschilderten Art nie unbeschadet herausfinden. Die tröstlichen Gewissheiten absoluter Wahrheiten gibt es schon lange nicht mehr.

Florian Felix Weyh, geboren 1963, lebt als Autor und Publizist in Berlin. Er bekam Preise und Stipendien für Drama, Prosa und Essay; seit 1988 arbeitet er regelmäßig als Literaturkritiker für den Deutschlandfunk. Sein jüngstes Buch "Die letzte Wahl – Therapien für die leidende Demokratie" erschien 2007 in der Anderen Bibliothek.
Florian Felix Weyh, Schriftsteller und freier Journalist in Berlin
Florian Felix Weyh© Katharina Meinel
Mehr zum Thema