Authentische Kunst von Laien
In seiner Gallery of Everything in London zeigt James Brett "Outsider Art": Kunst von Menschen am Rande des Kunstbetriebes. Dass sie besonders in Deutschland so akzeptiert ist, liegt nicht zuletzt an den Nazis.
Erste Adresse in der Chiltern Street im schicken Stadtteil Marylebone ist das Hotel Firehouse mit seiner Michelin-Küche und der - angeblich - längsten Warteliste Londons für Tischreservierungen.
Direkt gegenüber, in einem ehemaligen Friseurladen, hat er sein Reich: der Galerist James Brett. "Barber Shop" steht außen noch über der rot-weiß-gestreiften Markise. Und darunter: The Gallery of Everything.
Brett und seine Assistentin dekorieren das kleine Schaufenster fürs Weihnachtsgeschäft. Hier ein mit Parolen bekritzelter Nikolaus aus Pappe; daneben Weihnachtskarten bedruckt mit Fotos von zigtausendfach vergrößerten Schneeflocken.
Die Aufnahmen machte der amerikanische Fotopionier Wilson "Snowflake" Bentley, und der Nikolaus ist eine Arbeit von dessen Landsmann, dem Maler und Baptistenprediger Howard Finster.
In der Galerie ist Finster dutzendfach vertreten, denn: niemanden sammelt Brett so leidenschaftlich wie diese Lichtgestalt der sogenannten "Outsider Art". Bei seinem Tod 2001 hinterließ Finster an die 40.000 Werke.
In der Galerie stehen die Kopf- und Fußenden eines alten, eisernen Bettgestells. Finster verzierte sie mit den Häuptern Gorge Washingtons und Abraham Lincolns im Stil naiver Malerei. Eines seiner Werke an der Wand ist ein Porträt von Henry Ford. Der Autobauer inspirierte ihn zu einem phantasma-gorischen Erzählbild mit Anspielungen auf das Alte Testament.
Das Gemälde - "ein sehr, sehr schönes Stück" - sei noch zu haben, sagt Brett: sogar zum Vorzugspreis für 25.000 Pfund. Ein absolutes Schnäppchen!
Als "Bildnerei der Geisteskranken" herabgewürdigt
1985 entwarf Finster das Cover für die LP Little Creatures der New-Wave-Band Talking Heads.
"Leadsänger David Byrne war ein Fan dieser Art von Malerei, er gab Finster damals den Auftrag. Und wem die Musik von Talking Heads gefällt, der mag bestimmt auch diese Kunst."
Ein Musiker war es auch, der Brett vor zwanzig Jahren den Anstoß gab zu seinem ersten "Outsider Art"-Projekt, dem Vorläufer der Galerie: The Museum of Everything.
In einer TV-Dokumentation porträtierte der Kunsthochschulabsolvent und Pulp-Sänger Jarvis Cocker damals "Outsider"-Künstler in aller Welt. Die Serie läuft heute im Kellergeschoss der Galerie.
In den kreativen Außenseitern erkannte Cocker die, von denen er sang: die "common people" und "kleinen Leute", die Randfiguren der professionellen Kunstszene. Menschen wie den Hamburger Harald Stoffers zum Beispiel.
"Seine Spezialität sind die Briefe an die eigene Mutter. Sie sind Zeugnisse einer komplizierten Beziehung, in der nur schriftlich kommuniziert wird - in Form anspruchsvoll gestalteter Tuchzeichungen."
"Outsider Art" ist authentische, nicht-akademische Kunst von unverbildeten Laien und Autodidakten; Kunst von Behinderten und Menschen am Rand der Gesellschaft, die keine bürgerliche Existenz führen können oder wollen; Kunst, die nicht primär für den Betrachter geschaffen wird, sondern als Selbst-therapie - nicht wegen der Behinderung, sondern ihr zum Trotz.
Mit der vom Maler Jean Dubuffet begründeten "Art Brut"-Bewegung fing Anfang des vorigen Jahrhunderts alles an. Dubuffet gab die Parole aus: "Es fallen die Aktien der Intelligenz. Jetzt steigen die Aktien der Lebenskraft!"
Von der "Bildnerei der Geisteskranken" sprach - etwa zur selben Zeit - der Psychiater, Kunsthistoriker und Sammler Hans Prinzhorn.
Versuch der Grenzüberschreitung
Und dann kamen die Nazis. Sie, so James Brett, diffamierten diese sogenannte "Irrenkunst" als ein Phänomen anti-zivilisatorischer Dekadenz.
"Die Münchener 'Entartete Kunst'-Ausstellung 1937 war die größte 'Outsider Art'-Schau überhaupt. Sie war bestückt unter anderem mit Werken aus der Sammlung Prinzhorn. Kein Wunder, dass das Thema 'Außenseiter-Kunst' heute gerade in Deutschland auf relativ große Akzeptanz stößt."
Seine Gallery of Everything, so Brett, sei ein Versuch der Grenzüberschreitung und Grenzöffnung. Es gehe um die Aufhebung von Kategorien wie "normal" und "nicht normal" und um die Öffnung des Marktes für das Fremde, Surreale und Enthemmte.
Surreal-fantastisch muten die Skulpturen im zum Kunstkabinett umgebauten Kellerraum an. Da unten fühlt man sich fast wie im Volkskundemuseum.
Plastiken aus verkohltem Holz bilden hier ein Ensemble ominöser, kultischer Zaubergestalten mit Totemcharakter. Daneben stehen Zwergwesen aus Ton: mal mit drohender, mal mit erotisch-verführ-erischer Fratze. Es sind, erklärt Brett, Arbeiten des 1999 verstorbenen Bildhauers Roger Chomeaux.
"Er lebte als Einsiedler fast ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt, mit seinen Figuren als Schutzheilige. Aufs Geldverdienen mit seiner Kunst legte er keinen Wert."
Fast möchte man meinen: Für den Galeristen ist auch dieser "Chomo" eine Art Schutzheiliger. Aber über dessen Wert - und den seiner Kunst - lässt sich sicher noch reden.