Philip Dröge: "Niemandsland"

Der wilde Westen südlich von Aachen

Buchcover von Philip Dröges "Niemandsland", Hintergrund: eine Wiese in der Nähe von Monschau
Philip Dröge schildert in "Niemandsland" die Geschichte von Moresnet. © Piper Verlag/ imago/Manngold
Von Günther Wessel |
Die Diplomaten hatten keine Idee, wem der Zuschlag für dieses Gebiet gebührte, und so blieb nur: Neutralität. So entstand beim Wiener Kongress Neutral-Moresnet - ein Land der besonderen Möglichkeiten. Philip Dröge erzählt die Geschichte in "Niemandsland" detailverliebt und lebendig.
Der Kongress tanzte und am Ende fehlte den Diplomaten die Zeit. Deshalb markierten die Verhandlungsführer, die 1815 nach Napoleons Niederlage die Grenzen Europas in Wien neu zogen, manche Linien nur sehr grob und schufen dabei ein verrücktes Staatsgebilde, das über 100 Jahre Bestand hatte: Neutral-Moresnet, drei Quadratkilometer groß, zwischen den Niederlanden und Preußen gelegen und keinem der Länder zugehörig. Dessen seltsame Geschichte beschreibt der niederländische Autor Philip Dröge jetzt humorvoll und klug in seinem neuen Buch.
Der Zwergstaat Neutral-Moresnet lag dort, wo heute Belgien, die Niederlande und Deutschland westlich von Aachen ein Dreiländereck bilden. Wobei Zwergstaat eigentlich nicht ganz der richtige Terminus ist. Moresnet war ein sehr besonderes Territorium: Es wurde ab 1816 zunächst von den Niederlanden und Preußen gemeinsam verwaltet, ab 1830 nach der damaligen belgischen Staatsgründung von Belgien und Preußen.

Neutralität als Ersatzlösung

Moresnet besaß den Französischen Franc als Zahlungsmittel, dort galt französisches Recht, und die männlichen Bürger waren weder in den Niederlanden/Belgien noch in Preußen wehrpflichtig. Der Grund, warum dieses Gebiet überhaupt entstehen konnte, war eine sehr profitable Zinkspat-Mine. Die wollte auf dem Wiener Kongress kein Land dem anderen lassen. Und weil das fragile Kräfteverhältnis im nachnapoleonischen Europa auch kein Säbelrasseln erlaubte, wurde und blieb Neutral-Moresnet eben, wie der Name es schon sagt, fast 100 Jahre lang neutral.
Diese neutrale Zone war für alle, die es mit der Gesetzestreue nicht so ernst nahmen, das Paradies: Hier konnte man sich vor der Justiz der Nachbarländer verstecken, denn die hatte kaum Zugriff. Zudem boomte der Zinkspat-Abbau, weshalb die Mine dauernd Arbeitskräfte suchte. Es war der Wilde Westen südlich von Aachen: Schmuggel, Schwarzbrennerei und die Prostitution blühten, es wurde gesoffen und gehurt und wie in den Goldfundorten des echten Wilden Westens auf das schnelle Geld gesetzt.
Philip Dröge zitiert Zeitgenossen, die Mitte des 19. Jahrhunderts berichteten, dass in 80 der 200 Häuser der Zinkstadt Schnaps ausgeschenkt wurde, in manchen mehrere hundert Liter pro Woche. Glücksritter aller Art suchten dieses gesetzlose Ambiente heim, die Einwohnerzahl wuchs und wuchs – und schließlich lebten hier dreimal so viel Männer wie Frauen: 1816 lebten hier Ende des 19. Jahrhunderts etwa 5000 Menschen anstelle der anfangs 256 Seelen.

Eine an Atmosphäre reiche historische Erzählung

Philip Dröge erzählt dank fleißiger Recherche detailverliebt und lebendig: Er wühlte sich dafür durch Archive in Belgien, den Niederlanden, Frankreich und Deutschland, durch Fachliteratur, Erinnerungen, Briefwechsel und alte Zeitungen. So gelingt ihm eine faktengesättigte und an Atmosphäre reiche historische Erzählung - auch vom Ende Neutral-Moresnets. Das begann am 14. August 1914 als deutsche Soldaten durch die neutrale Zone nach Belgien einmarschierten. Besetzt, aber dennoch neutral existierte Moresnet bis Kriegsende und trotzdem produzierte die Mine nun für die deutsche Kriegsindustrie. Im Versailler Vertrag wurde das Gebiet schließlich Belgien zugesprochen – und es kehrt Normalität ein.

Philip Dröge: Niemandsland. Die unglaubliche Geschichte von Moresnet, einem Ort, den es eigentlich gar nicht geben durfte
Übersetzt aus dem Niederländischen von Christine Burkhardt
Piper Verlag, München 2017
286 Seiten, 22 Euro

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