Philip Mirowski: Untote leben länger
Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist
Matthes & Seitz, Berlin, September 2015
325 Seiten, 29,90 Euro
Neoliberalismus als weltumspannende Verschwörung
Der Ökonom Philip Mirowski übt in seinem neuen Buch massive Kritik an seiner eigenen Zunft und am Neoliberalismus. Dieser sei frei von Ethik und höchst manipulativ. Der Autor schafft es, Ideologiekritik so spannend wie einen Thriller zu formulieren.
Neoliberalismus beschreibt der amerikanische Ökonomen Philip Mirowski als ein ideologisches Projekt, das im Dienst wirtschaftlicher Interessen auftrete und wissenschaftlich äußert fragwürdig agiere.
Seine Analyse hätte er auch als Thriller anlegen können. Es wäre ein Krimi über eine weltweit angelegte Verschwörung eines intellektuellen Geheimbundes geworden, der radikale Marktfreunde benutzt, um in einem langen Marsch Wissenschaft und Gesellschaft zu unterwandern. Wer sich in der amerikanischen Hochschullandschaft nicht auskennt, würde von Verve und Furor einer solchen Story überrascht sein, auch davon, dass deutsche Ordo-Liberale auf eine kleine, kaum erwähnenswerte Rolle in einem korrupten Spiel reduziert werden.
Philip Mirowski stellt den Neoliberalismus als eine windige Denkschule vor, liberalen und konservativen Strömungen zwar verwandt, aber nicht annähernd so prinzipientreu oder durchschaubar. Sie entpuppe sich vielmehr als eine doktrinäre, interessengeleitete Strategie, die in einem Geflecht weitverzweigter, sich sogar widersprechender Initiativen agiere.
Neoliberale sind nie Schuld am eigenen Versagen
Ideologiekritik ist das Forschungsgebiet des Ökonomieprofessors an der "University of Notre Dame" in Indiana. Er folgt dabei der Spur wirtschaftlicher Interessen durch den Wissenschaftsbetrieb der USA. Seit den 40er Jahren hätte eine handverlesene Gruppe neoliberaler Intellektueller ein hierarchisches Netzwerk aus Denkfabriken, Akademien, Universitätsinstituten und Unternehmen aufgebaut, das nach außen für eine offene Gesellschaft eintrete, sich nach innen aber als elitär, demokratieverachtend und feindselig gegenüber anderen Auffassungen darstelle. Die doppelte Wahrheit, die er mit hehrem Anspruch verkünde, sei ein Merkmal des Neoliberalismus.
Seinen Fachkollegen hält Philipp Mirowski Verstöße wider jede Ethik vor, wenn sie das Renommee von Hochschulen nutzten, um sich als unabhängige Experten auszugeben und sich als Sachverständige, Berater oder ranghohe Mitarbeiter von Regierung, Parlament und Notenbank berufen zu lassen, dabei aber nicht offenlegten, wie sehr ihre wissenschaftliche Arbeit privat von interessierten Unternehmen gesponsert werde.
Ein zweites Merkmal sei folglich die hoch manipulative Vorgehensweise. Wie Liberale würden Neoliberale an alles regulierende Kräfte des Marktes glauben, die deswegen auch nie an ihrem Versagen selbst schuld sein könnten. Schuld seien immer andere Akteure, vorzugsweise der Staat. Nicht dass sie ihn verachteten sei das "Neo" an den Neoliberalen, sondern dass sie seine Institutionen jederzeit bereitwillig vor ihren Karren spannen würden, um marktkonforme Gesetze zu verabschieden oder finanzielle Folgen abzuwälzen. Mit ihrer Strategie hätten sie dem Kommerz eine Bresche über Universitäten und Wissenschaft hinaus in das gesamte gesellschaftliche Denken geschlagen – so sehr, dass selbst Kritiker davon angesteckt seien und nichts entgegen zu setzen hätten.
Das Ziel: Möglichst viel Verwirrung stiften
Das wiederum führe zum dritten Merkmal des Neoliberalismus, geschickt davor auszuweichen, eigene Ansichten, Theorien und Modelle grundsätzlich hinterfragen zu müssen. Denn eigentlich, so Philip Mirowski, hätte die jüngste Banken- und Finanzkrise der marktradikalen Schule den Garaus machen müssen. Dass sie nun aber stärker als zuvor sei, dass die "Untoten länger lebten", liege daran, dass ihr gelungen sei, eine Bankenrettung durchzusetzen, ferner der öffentlichen Hand eine Doppellast aus Schulden und Sparpolitik aufzudrücken.
Dies hätten die Neoliberalen durch ein viertes Merkmal ihrer Strategie erreicht, mit Leugnen und Vernebeln von politisch ungewünschten Themen abzulenken. Ob beim Klimaschutz oder bei der Finanzmarktkontrolle stets würden sie dreistufig reagieren: erst Bestreiten eines Problems, dann der Wechsel zu marktkonformen Antworten, die schließlich in die Vision alles lösender Technologien übergingen.
Ein wenig erfolgreicher Zertifikate-Handel und ein utopisches Geoengineering sind ihm dafür ebenso Beispiele wie eine teure Bankenrettung und spekulative Finanzinnovationen. Solche Ideen sowie die Fülle neoliberaler Debattenbeiträge hätten nur ein Ziel: Möglichst viel Verwirrung im Publikum zu stiften, damit letztlich Märkte und Unternehmen ungeschoren davon kämen.
Philip Mirowskis Analyse lässt alle Akteure zu Neoliberalen werden, auch die Leser seines Buches. Das mag manchen wundern oder ärgern. Es zeigt aber auch, wie flüchtig und wenig greifbar das "Neoliberale" geworden ist, als propagandistische Allzweckwaffe beliebt, aber darin sogleich inhaltsleer.
Gegenüber der eigenen Zunft argumentiert der Wissenschaftsforscher sehr scharf und führt die Ökonomen ausführlich als heillos zerstritten vor, als nicht fähig, die Ursachen der jüngsten Finanzkrise zu erklären, weswegen sie auch nicht wirklich daran interessiert seien.