Philip Pullman: "Über den wilden Fluss"
Aus dem Englischen: Antoinette Gittinger
Carlsen, Hamburg 2017
560 Seiten, 24 Euro
Spannender als Harry Potter
Mit "His Dark Materials" landete Philip Pullman einen Welterfolg. Nun legt der britische Autor mit "Über den wilden Fluss" den Auftakt zu einer neuen Trilogie vor und liefert die Vorgeschichte zu seiner Erfolgssaga.
Philip Pullman ist ein Phänomen. Das konnte man zum Beispiel merken, wenn man den britischen Autor im Herbst bei einem Auftritt im Rahmen des London Literature Festivals im Southbank Centre erlebte. Nicht weil Pullman viele witzige und auch einige kluge Dinge sagte, sondern weil hier genauso viele jugendliche wie erwachsene Fans nebeneinander saßen. Fans, die erst ohne Zögern aus voller Kehle "Happy Birthday" sangen. (Pullman hatte am Tag zuvor Geburtstag.) Und die sich in der abschließenden Fragerunde – so sie Pullmans neues Buch "Über den wilden Fluss" noch nicht gelesen hatten – an den entscheidenden Stellen die Ohren zuhielten. Spoiler-Alarm!
Eintauchen in Pullmans Parallelwelt
Der Vorgänger "His Dark Materials" – inspiriert von Miltons "Paradise Lost" - hat den ehemaligen Lehrer Ende der 1990er berühmt gemacht. Die Trilogie über Menschen, ihre Tier-Daemonen und die mysteriöse Materie "Staub" hat sich weltweit bisher 17,5 Millionen Mal verkauft und wurde in 40 Sprachen übersetzt. Pullmans neuer Roman "Über den wilden Fluss" ist der erste einer neuen Trilogie. Das Buch spielt rund zehn Jahre vor den Abenteuern von Lyra und Will in "His Dark Materials". Held der Geschichte ist der elfjährige Malcom Polstead. Der Sohn eines Gastwirts lebt in einem Dorf bei Oxford, in einer Parallelwelt, die Pullman-Fans bereits kennen. Jeder Mensch hier wird auf Schritt und Tritt von seinem Daemon begleitet, einer Seele in Tiergestalt.
Malcom trifft auf das Baby Lyra und ihren Daemon Pantalaimon und gerät bald zwischen die Fronten eines "geheimen Kriegs". Eine sekuläre Geheimorganisation namens "Oakley Street" stellt sich der totalitären Kirche entgegen und setzt sich für Meinungsfreiheit und unabhängige Forschung ein. Als kirchliche Kräfte aus zunächst ungeklärten Gründen Lyra entführen wollen, schreitet Malcom ein. In seinem Kanu "La Belle Sauvage" flieht er mit Lyra die Themse hinunter. Mit an Bord ist die 15-jährige Alice, die Malcom – wie es sich für einen Jungen seines Alter gehört – eigentlich recht nervig findet.
Das Schreckgespenst der Theokratie
Der Atheist Pullman hält nichts von institutionalisierter Religion, gar nichts. Entsprechend spart er auch in "Über den wilden Fluss" nicht mit Kirchenkritik. Malcom, Lyra und Alice leben in einer Theokratie. Die Kirche, ihre Geheimdienste und Gedankenpolizei bestimmen das Leben in "Brytannien". "Wir leben in einem christlichen Land, in einer christlichen Kultur." Kinder werden angeworben, um Mitschüler und Eltern zu denunzieren. Wer sich kritisch äußert, muss öffentlich um Vergebung betteln oder verschwindet.
Vieles von dem, was der Autor hier auffährt, kennen Pullman-Leser bereits. Neueinsteiger haben es so leicht. Kenner hingegen müssen sich etwas gedulden bis die Fluss-Odyssee an Fahrt aufnimmt. Plot und "La Belle Sauvage" beschleunigen sich stromabwärts. Pullman greift immer tiefer in die Märchenkiste. Malcom und Alice treffen auf Feen, Wasserriesen und magische Orte. Und während Pullman beginnt mit bedeutungsschweren Traumwelten zu spielen, erinnert man sich wieder, warum man Pullmans Universum in seiner Komplexität und Doppelbödigkeit damals so viel spannender fand als Harry Potter.