Philipp Felsch: „Wie Nietzsche aus der Kälte kam"

In der geistigen Kampfzone

07:27 Minuten
Buchcover "Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung" von Philipp Felsch
© C.H. Beck

Philipp Felsch

Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer RettungC.H. Beck, München 2022

288 Seiten

26,00 Euro

Von Arno Orzessek |
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Von den Nationalsozialisten bis zu den postmodernen Linken: Alle haben Nietzsche gelesen. Philipp Felsch schildert in seinem mitreißenden Buch die Entstehung und Bedeutung der Nietzsche-Gesamtausgabe und begibt sich damit auf umkämpftes Terrain.
„Nietzsche hat die Distinktion, der einzige Philosoph zu sein, der jemals als Mitursache eines Weltkriegs angesehen wurde“, notierte einst der Politikwissenschaftler Eric Voegelin. Viele Indizien stützen sein Urteil. Mit der Widmung „Adolf Hitler seinem lieben Benito Mussolini“ ließ der "Führer" dem "Duce" 1943 eine Nietzsche-Gesamtausgabe zukommen.
"Der Wille zur Macht", das aus dem Nachlass zusammengeklebte Machwerk von Elisabeth Förster-Nietzsche, galt Gelehrten wie Martin Heidegger, aber auch NS-Größen und -Zwergen als Nietzsches visionäres Hauptwerk.

Die Suche nach dem "echten" Nietzsche

Als dann der braune Horror vorbei war, war Nietzsche massiv diskreditiert – und nicht nur in politischer Hinsicht. Er galt vielen als philosophische Null, als pompöser Weltanschauungsschriftsteller. Die italienischen Philologen und Anti-Faschisten Giorgio Colli und Mazzino Montinari akzeptierten das jedoch nicht als das letzte Wort.
Sie entschlossen sich, den 'echten' Nietzsche freizulegen. Ihre unerhört pedantische und ingeniöse Befassung mit dem Nietzsche-Nachlass mündete in die legendäre "Kritische Gesamtausgabe", die ab 1967 bei De Gruyter erschien.

Bewusste Verzerrungen

Finden Sie Editionsgeschichte(n) langweilig? Dann haben Sie noch nicht "Wie Nietzsche aus der Kälte kam" gelesen. Philipp Felsch schildert vor dem Hintergrund des linken italienischen Milieus der Kriegs- und Nachkriegszeit, wie Montinari zum Lieblingsschüler seines Lehrers Colli wird, dessen Griechenlandfaible Stefan-George-hafte Züge trägt. Felsch verfolgt, wie Montinari im Weimarer Nietzsche-Archiv in der Aufgabe seines Lebens versinkt.
Er zeigt, wie radikal sich dessen skrupulöses Textverständnis von den luftigen früh-postmodernen Lesarten junger französischer Denker wie Deleuze und Derrida unterschied, die sich von Nietzsche intellektuelle Freifahrtscheine versprachen. Michel Foucault etwa bestand darauf, dass man Nietzsches Denken „benutzt, verzerrt, mißhandelt und zum Schreien bringt. Ob einem die Kommentatoren Treue bestätigen oder nicht, ist völlig uninteressant.“
So erschütternd solche "laissez faire"-Phrasen für Colli und Montinari klingen mussten – der Nietzscheanismus der Nachkriegszeit ging von Frankreich aus. Nietzsche selbst hatte prophezeit, man werde ihn eher „in Paris und New York“ als in „Europa's Flachland Deutschland“ verstehen.

Keinerlei Plumpheit ist zulässig

"Wie Nietzsche aus der Kälte kam" berichtet klug, fesselnd, lehrreich von den Frontverläufen in der geistigen Kampfzone, die Nietzsche dem modernen Denken eröffnet hat – Paradoxien inklusive: Der hochtalentierte Philologe hatte als junger Mann die philologisch dominierte Altertumskunde mit der extrem freisinnigen "Geburt der Tragödie" geschockt; er hatte sich mit Verlegern um jedes Komma gestritten, aber jede Kleingeistigkeit verachtet.
Bleibt also Thomas Manns Warnung vor blindlings-buchstäblicher Lektüre gültig: „Keinerlei Plumpheit und Geradheit ist zulässig, jederlei Verschlagenheit, Ironie, Reserve, erforderlich“? Oder spricht mehr für Peter Sloterdijk, der in der modisch-beliebigen Nutzung von Nietzsche-Zitaten eine „Ideologie der Mediokrität“ erkennt und größere Strenge anmahnt?
Falls Sie sich fragen, ob das alles überhaupt wichtig ist: Ja, ist es!... Wenn es denn so etwas wie das Leben des Geistes gibt oder geben soll. Felschs Buch zeigt das ganz wunderbar.

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