Philipp Hübl: Die aufgeregte Gesellschaft. Wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken
C. Bertelsmann Verlag, München 2019
432 Seiten, 22 Euro
Bestimmen Gefühle unsere Weltanschauung?
39:29 Minuten
Hund oder Katze? Land oder Stadt? Tatort oder Netflix? Persönliche Vorlieben deuten auf weltanschaulichen Ansichten hin, meint Philipp Hübl, denn Emotionen prägen moralische Überzeugungen und verschärfen die gesellschaftliche Polarisierung.
Woher wissen wir, was richtig oder falsch ist? Philosophisch betrachtet, ist das eine Frage der Ethik. Aber im Alltag hat die vernünftige Abwägung moralischer Prinzipien viel weniger Einfluss auf unser Handeln, als wir annehmen. "Der Mensch hat einen Verstand und ist dennoch Tier geblieben", schreibt Philipp Hübl in seinem neuen Buch "Die aufgeregte Gesellschaft".
Emotionen prägen Moral und politische Präferenzen
Weit mehr, als es uns bewusst ist, beeinflussen Gefühle unsere Entscheidungen, so der Philosoph und Publizist im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur auf der Leipziger Buchmesse. "Emotionen prägen unsere moralische Identität und damit unsere politischen Präferenzen", schreibt Hübl. Um diesem Zusammenhang nachzugehen, zieht er für sein Buch die Ergebnisse zahlreicher psychologischer Studien heran.
"Wer im Schlafzimmer bügelt, wählt eher rechts, und wer sich nackt auf dem Sofa lümmelt, eher links", so etwa lautet, leicht zugespitzt, der Befund einer Untersuchung, die vom Lebensstil der Probanden Rückschlüsse auf ihre Überzeugungen und Werte ermöglichen soll. Philipp Hübl verspricht sich von Erhebungen dieser Art weitreichende Erkenntnisse.
Vielfalt oder Tradition? – Die Welt ist polarisiert
"Anhand unserer moralischen Emotionen kann man nicht nur den Rechtsruck besser verstehen", meint er, "sondern auch, warum sich Stadtbewohner und junge Menschen nach Freiheit, Vielfalt und Offenheit sehnen und Ältere und Landbewohner nach Struktur und Tradition, kurz: warum die Welt polarisiert ist."
Sechs "moralische Grundprinzipien", dienen laut Philipp Hübl zur Unterscheidung von "progressiven" Zeitgenossen und Menschen, die eher "konservativ" orientiert seien. Auf der einen Seite stehen "Fürsorge", "Fairness" und "Freiheit", die drei progressiven "F"s, so Hübl: Werte, die für viele liberal oder links eingestellte Menschen in westlichen Ländern zentrale charakterlich motivierte Orientierungspunkte seien.
Autorität und Reinheit: Rückkehr des Konservativen
Auf der anderen Seite geben "Autorität", "Loyalität" und "Reinheit" den Ton an: Werte, die die Abgrenzung der eigenen Gemeinschaft von anderen betonen sowie Orientierung und Stabilität durch traditionelle Autoritäten bejahen. Es sind die Kern-Prinzipien, auf die sich Konservative weltweit berufen, so auch in westlichen Gesellschaften, sagt Hübl.
Auf welche Werteorientierungen wir unsere jeweilige Vorstellung von einem guten Leben gründen und weshalb, das sei uns selbst oft nur zum Teil bewusst und hänge mit elementaren Emotionen wie Angst, Mitleid, Ekel oder Scham zusammen, so Hübl. Mitgefühl mit Schwächeren spiele dabei ebenso eine Rolle wie der Wunsch nach Zugehörigkeit. Um moralisch verantwortlich zu handeln, müssen wir uns mit diesen unbewussten Antrieben auseinandersetzen, meint der Philosoph.
Wir sind unseren Gefühlen nicht ausgeliefert
Aus diesem Grund stützt sich Hübl in seinem Buch vor allem auf Erkenntnisse der Moralpsychologie und Sozialpsychologie. Die empirischen Daten dieser beiden Disziplinen könnten verborgene Beweggründe zutage fördern und klassische Konzepte der Sozialphilosophie wie zum Beispiel Adornos Analyse des "autoritären Charakters" präzisieren.
"Obwohl Moral eine biologische Grundlage hat, sind wir unseren Emotionen nicht hilflos ausgeliefert", betont Philipp Hübl. Auch unsere Vernunft sei schließlich ein Produkt der Evolution, und sie versetze uns in die Lage, "auf die richtigen Gefühle zu hören und die falschen einzuhegen." In Fragen der Moral seien wir "grundsätzlich autonom", schreibt Hübl. Indes: "Wir machen von unserer Selbstbestimmung zu selten Gebrauch."
Gehört die Zukunft den Progressiven?
Der Blick auf die großen Linien der Menschheitsgeschichte stimmt Philipp Hübl dennoch optimistisch "Fast alle Länder und Kulturen haben in den letzten Jahrhunderten eine Entwicklung vom kollektivistischen Stammesmodell zu modernen Gesellschaftsformen durchgemacht", schreibt er, "sodass der moralische Kompass immer weniger in Richtung Autorität und Loyalität ausschlägt, dafür mehr in Richtung Fairness und Freiheit."
"Offenheit" – also: Interesse an Neuem und die Fähigkeit, im Zusammenleben Mehrdeutigkeiten zu ertragen – habe als "Kardinaltugend der Zukunft" schon deshalb gute Chancen, sich durchsetzen, weil die nachwachsenden Generationen durchschnittlich besser gebildet seien als heute. Voraussetzung dafür sei allerdings die Bereitschaft, sich selbst und die eigene Moral immer wieder in Frage zu stellen.
Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
Buchmesse-Schwerpunkt "Identitätspolitik"
Auf der Leipziger Buchmesse wurde ausgiebig und hitzig über "Identitätspolitik" diskutiert. Postmigrantische Autorinnen und Autoren wie Ferda Ataman, Marvin Oppong und Dilek Güngör gaben dazu ebenso Anstoß wie die feministischen Schriftstellerinnen Sophie Passmann und Jagoda Marinić. Weshalb ist die Diskussion von so großer Nervosität umgeben? Was waren besonders umstrittene Themen und Thesen? René Aguigah fasst die wichtigsten Positionen zusammen.