Philipp Staab: "Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft"
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Müssen wir uns von Illusionen verabschieden?
05:47 Minuten
Philipp Staab
Anpassungedition suhrkamp, Berlin 2022240 Seiten
18,00 Euro
Unter Intellektuellen war der Unangepasste stets angesehener als der Angepasste. Nun ruft ein Soziologe zu mehr Anpassung auf. Mathias Grefrath erklärt, was Philipp Staab damit meint: Eine gesellschaftliche Haltung, die Anpassungsstrategien entwirft.
„Zeitenwende“ scheint das Wort des Jahres zu werden, aber schon lange vor Putins Krieg war es nur schwer zu übersehen, dass sich die Gewissheiten auflösen, die das Leben einigermaßen kalkulierbar machten – wohlgemerkt in den bessergestellten Regionen der Welt.
Das Verfehlen der Klimaziele, die Endkämpfe um Rohstoff und Einflusssphären, der Zweifel an der Kraft der parlamentarischen Demokratie, die Armut im Süden des Globus, Populismus und Protektionismus – das alles und noch mehr schießt zu einer umfassenden Krise zusammen, deren Ende nicht abzusehen ist.
Niemandem fällt der Abschied vom Fortschritt leicht
Der Abschied vom Fortschritt fällt nicht leicht. Das gilt auch für die Begriffe der Soziologie, dieses intellektuelle Kind der Neuzeit. Ihre nüchterne Grundfrage lautet: Was hält Gesellschaften zusammen? Was sichert ihre Stabilität? Im letzten halben Jahrhundert war es in den westlichen säkularen Gesellschaften das ständige Wachstum, welches Wohlstand und Sozialstaat möglich machte. Aber „wie kann eine Gesellschaft aussehen, die sich mit Nachdruck vom Fortschrittsbegriff verabschiedet?“
„Anpassung“ lautet die Antwort, so auch der Titel von Philipp Staabs Erkundungen der „nächsten Gesellschaft“. Anpassung des Wirtschaftens an die Fragilität der globalen Lieferketten, Anpassung der Außenpolitik an den Kampf der Weltmächte um Hegemonie, Anpassung des Sozialstaats an die kommenden Herausforderungen. Und Anpassung der Erwartungen von Bürgern, Produzenten und Konsumenten an diese neue Gesamtlage, und das heißt zunächst einmal: Illusionen verabschieden.
Staab sucht nach den „Avantgarden der Anpassung“
Statt normativ zu argumentieren und Pläne im Konjunktiv zu entwerfen, sucht Staab in seinem Essay zunächst nach „Avantgarden der Anpassung“ – ohne Anspruch auf systematische Vollständigkeit. Er findet sie zum einen in der Generation Greta. Anders als die rebellischen Jugendlichen etwa der 68er-Revolte wollen diese streikenden Schüler, auch wo sie den Verkehr blockieren oder Bäume besetzen, keine Utopien verwirklichen.
Sie fordern von der Politik Schadensbegrenzung ein – und das a tempo. Von der vulgärmaterialistischen Verkürzung des Fortschritts wenden sie sich ab, aber Kinder der Moderne bleiben sie in ihrer Forderung nach einer Politik, die sich an den Evidenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse orientiert (Follow the Science).
In der Konsequenz, aber noch abstrakt, hieße das: flexible Anpassung an wechselnde Gefahrenlagen bei Beibehaltung der Identität (resilience), Verzicht auf destruktiven Konsum (relinquishment), Wiederherstellung von Zerstörungen (restauration) und schließlich Versöhnung (reconciliation) konfligierender Gruppen, aber auch der Individuen in den Wohlstandsregionen mit der Unvermeidlichkeit von Einbußen.
Die "Systemrelevanten" wissen längst, worauf es ankommt
Die zweite „Avantgarde“ an der Schwelle zur nächsten Gesellschaft findet Staab unter den „systemrelevanten“ Beschäftigten in den Bereichen Gesundheit, Erziehung, Sicherheit, Infrastrukturen, Logistik und Versorgung – diejenigen also, ohne die jede moderne Gesellschaft nach ein paar Tagen kollabieren würde.
Sie fordern einen durchsetzungsfähigeren Staat, der die Selbsterhaltung der Gesellschaft mit dem Blick auf ihre Zukunftsfähigkeit effektiv und mit „vertikaler Autorität“ organisiert, also befreit ist vom Druck der Lobbys und den kurzen Fristen des Parlamentarismus.
Staab sieht in dieser Forderung den Wunsch nach „Entpolitisierung“ und einer „Protektiven Technokratie“. Das sind Reizwörter, die libertäre Soziologen ebenso wie dogmatische Liberale und jugendliche Rebellen provozieren könnten – und vielleicht sollen, so wie der Begriff der „Anpassung“ insgesamt.
Aber solche begrifflichen Lockerungen lösen falsche Entgegensetzungen auf wie die von Bürgerfreiheit und starkem Staat, oder destruktive Synthesen wie die von Emanzipation und Individualismus. Und sie fordern zu weiteren, strategisch orientierten Überlegungen auf: etwa, ob und wie eine Forcierung der „Partizipation“ von Bürgerräten oder sozialen Bewegungen, ob und wie eine stärkere Verknüpfung von Wissenschaft und Politik der „Anpassung“ von Staatlichkeit an die verschärfte Gefahrenlage dienlich sein können.
Philipp Staab legt mit „Anpassung“ Sonden in die Gesellschaft der Zeitenwende, die bei der Vorbereitung auf die Zukunft hilfreich sind – und deren gelegentlich überraschende Wendungen die Warnung enthalten, nicht mit ein paar großformatigen Konzepten schon begriffen zu haben, was vor uns liegt.