Philippe Sands: Die Rattenlinie. Ein Nazi auf der Flucht. Lügen, Liebe und die Suche nach der Wahrheit
aus dem Englischen von Thomas Bertram
Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020
544 Seiten, 25 Euro
Der Nazigouverneur und sein geheimnisvoller Tod
05:31 Minuten
Es ist schon einiges geschrieben worden über die geheimen Verbindungen zwischen dem NS-Regime und dem Vatikan. Phillipe Sands widmet sich hier dem Tod des SS-Offiziers Otto Wächter, der 1949 in Rom starb. Allerdings fehlt seinem Recherchebericht die Form.
Rattenlinien: Das waren die Fluchtwege gesuchter Nazi-Verbrecher über Österreich und Südtirol nach Rom und von da – unter tätiger Mithilfe gewisser Kreise im Vatikan – ins sichere Südamerika, manchmal auch nach Syrien.
Es gibt zahllose Bücher darüber, wissenschaftliche wie erzählerische, von sachlich bis reißerisch. Da das Vatikanische Archiv erst im vorigen Jahr der Wissenschaft vollständig zugänglich gemacht wurde, gab es jahrzehntelang Spekulationen, wie diese Netzwerke ehemaliger SS-Männer und hoher Kleriker tatsächlich funktionierten und welche Rolle die Geheimdienste der Siegermächte darin spielten.
Neue Details einer alten Geschichte
In seinem Buch "Rattenlinie" fügt der britische Jurist und Autor Philippe Sands diesem Komplex einige neue Details hinzu. Er untersucht darin die Geschichte des SS-Offiziers Otto (von) Wächter, der von 1942 bis 1944 Gouverneur von Galizien in Lemberg (Lwiw) war, danach in Italien Hitlers Verbindungsmann zu Mussolini.
Im Jahr 1949 starb er als gesuchter Kriegsverbrecher auf der Flucht in Rom. Es sei ein Giftmord gewesen, behauptete Bischof Hudal, Helfer flüchtiger Nazis und wütender Antikommunist, in seinen posthum erschienenen Memoiren.
Mit der Frage nach der Todesursache beginnt Sands seinen Recherchebericht, der die Leserschaft auf den Spuren Wächters durch ein endloses Labyrinth führt.
Das Problem dabei ist, dass dieser Mann weder Gewissen noch Geheimnis hat, er ist ein ehrgeiziger Nazi aus guter Wiener Familie, ein angesehener Funktionär mit einer passenden Ehefrau, die außer dem Nationalsozialismus auch Musik und Kunstgegenstände schätzte.
Ein Sohn und seine Wahrheit
Viel interessanter ist der jüngere Sohn der beiden, Horst, der sich mit seinem Erbe zusammengeraubter Familienschätze ein heruntergekommenes Schloss gekauft hat und einen sonderbaren Ahnenkult betreibt: Er gräbt nach der Wahrheit über den Vater, zum Missfallen der Familie, aber wo immer die Wahrheit ans Licht kommt, verschließt er die Augen davor.
Der Vater war ein Nazi, ja, aber mit Massenmord und Geiselerschießungen habe er, der Gouverneur, nichts zu tun gehabt.
Die Beziehung zwischen Horst Wächter und dem Autor, dessen Großvater seine gesamte Familie in Lemberg verlor, ist der eigentliche Glutkern dieses Buches – oder könnte es sein, wäre sie nicht zugedeckt von zahllosen Details.
Wir erfahren, in welcher Almhütte der untergetauchte Wächter seine Frau traf und was sie dort aßen, welches Wetter herrschte, als der Autor mit seiner Tochter auf Wächters Spuren über die Ötztaler Alpen nach Italien ging und es fehlt auch nicht die Anzahl der Törtchen, die der Autor seinem Nachbarn John Le Carré mitbrachte, als er ihn über die Arbeit der Geheimdienste im Nachkriegsösterreich befragte. Le Carré übrigens vermutete, Wächter sei durch ein "jüdisches Racheteam" vergiftet worden.
Eine formlose Materialsammlung
Sands‘ Buch schließt an seinen Bestseller "Rückkehr nach Lemberg" an und an den zehnteiligen BBC-Podcast "Ratline". Die Reaktionen auf diese Arbeiten flossen ebenfalls in das Buch ein.
Trotz interessanter Erkenntnisse – wie der, dass der kirchliche Nazifreund Hudal auf der Gehaltsliste des US-Geheimdiensts CIA stand – und Einblicke in den Alltag höherer Nazi-Chargen: Als Buch ist dieser Recherchebericht nicht wirklich gelungen.
Zahlreiche Stilblüten ("mit eiserner Faust und antisemitischer Autorität"), mehrfache Wiederholungen bereits bekannter Tatsachen und die zahllosen überflüssigen Einzelheiten machen die Lektüre unbefriedigend.
Sands hat alles auf den Tisch geschüttet, was bei seinen jahrelangen Recherchen ans Licht kam, ohne dem Ganzen eine Form zu geben. So ist es bei einer bloßen Materialsammlung geblieben.