Philosoph Carlo Strenger

Freiheit ist ein Abenteuer, das auch weh tut

Blick auf die Freiheitsstatue vor dunklen Wolken.
Freiheit: In den USA wurde sie mit viel Blut erkämpft © picture alliance / dpa / Klaus Nowottnick
Moderation: Nana Brink |
Der Psychologe und Philosoph Carlo Strenger wirft immer wieder einen kritischen Blick auf die westliche Welt. Seine Überzeugung: Wir sind zu satt und zu bequem. Seine Antwort: das Leben in seiner "tragischen Struktur" begreifen - und bewusst gestalten.
Er ist einer der großen liberalen Intellektuellen Israels – der Psychologe und Philosoph Carlo Strenger. In seinem letztes Buch "Zivilisierte Verachtung" hat er uns bei der Verteidigung westlicher Werte mangelnde Wehrhaftigkeit bescheinigt. Und auch in seinem neuen Werk geht Strenger gewohnt pointiert zu Sache.
Dieses Mal im Blick: das Abenteuer Freiheit. Dieses Abenteuer bestehe darin, das jeder von uns die Möglichkeit, das Recht, aber auch die Pflicht habe, sein Leben bewusst zu gestalten, sagte Strenger im Deutschlandradio Kultur. Jeder müsse für seine Werte und Entscheidungen Verantwortung übernehmen. Und jedem müsse bewusst sein, dass die Freiheit "Unbeschütztheit" und ein gewisses Risiko mit sich bringe.
Strenger sieht im Mentalitätsbestand der westlichen Gesellschaften mehrere, gravierende Probleme. Nach sieben Jahrzehnten fast ununterbrochenem Frieden und ständig steigendem Wohlstand, zumindest in Europa und den USA, gebe es nun drei Generationen, die nie für Freiheit kämpfen mussten. Diese nähmen die Freiheit als selbstverständlich, sagte Strenger.
Die Idee der Freiheit müsse man aber immer wieder durchdenken. Die liberale politische Ordnung sei sehr fragil und müsse gepflegt, gehegt und verteidigt werden. Doch diese Erkenntnis sei unpopulär geworden: Es solle alles so bequem wie möglich sein.
Die westliche Kultur verdrängt nach Ansicht des Philosophen zudem, dass das menschliche Leben im Grundsatz eine tragische Struktur hat. Alle meinten, ein Recht auf Glück zu haben - und machten dann die Gesellschaft oder die Eltern verantwortlich, wenn es sich nicht einstelle.
Strenger wirbt für eine grundsätzlich andere, schmerzhafte Perspektive:
"Wir scheitern darin, dass wir – ob wir wollen oder nicht – älter und gebrechlicher werden, dass wir alle letztendlich sterben."
"Weil wir das zu verdrängen versuchen, leben wir dann in dieser Berechtigungs-Mentalität, dass uns eigentlich alles zusteht."
Strenger sieht die Antwort auf das Problem darin, sich dieser tragischen Struktur wieder bewusst zu werden. Gerade die abenteuerliche Struktur des Lebens mache es lebenswert, betonte er. (ahe)


Das Gespräch im Wortlaut:

Nana Brink: Er ist einer der umtriebigsten liberalen Intellektuellen Israels, der Psychologe und Philosoph Carlo Strenger. Sein letztes Buch "Zivilisierte Verachtung" hat Aufsehen erregt, weil es unsere liberale Gesellschaft kritisiert. Als praktizierender Psychoanalytiker hat er uns mangelnde Wehrhaftigkeit bescheinigt. Wir sind zu schlapp, wenn es darum geht, unsere Werte zu verteidigen. Heute erscheint nun sein neues Buch, "Abenteuer Freiheit. Ein Wegweiser für unsichere Zeiten". Carlo Strenger, schönen guten Morgen nach Tel Aviv!
Carlo Strenger: Auch Ihnen einen schönen guten Morgen!
Brink: Worin besteht denn das Abenteuer Freiheit?
Strenger: Idealerweise ist das Abenteuer der Freiheit - das in der westlichen Kultur sich ganz graduell über zweieinhalb Jahrtausende entwickelt hat und das wir politisch innerhalb der letzten 400 Jahre in einem schmerzhaften Weg zu verteidigen, aufzubauen und zu verteidigen versuchten - besteht dieses Abenteuer darin, dass jeder von uns die Möglichkeit, das Recht, aber auch die Pflicht hat, dass wir unser Leben bewusst gestalten, dass wir für unsere Grundwerte und für unsere Entscheidungen Verantwortung übernehmen und uns auch ständig dessen bewusst sind, dass diese Freiheit natürlich auch eine gewisse Unbeschütztheit und ein gewisses Risiko mit sich bringt.
Keiner von uns darf, kann damit rechnen, dass wir mit unserer Freiheit am Schluss das erreichen werden, was wir gern möchten. Aber unsere Verantwortung bleibt, das zu versuchen, und das ist nun wirklich ein Abenteuer.
Brink: Und nehmen wir diese Verantwortung wahr? Was machen wir mit der Freiheit?
Strenger: Der Ausgangspunkt dieses Buches ist, dass ich mit vielen der zeitdiagnostischen Kritiker - ich möchte vor allem an den viel gelesenen, auch viel kritisierten französischen Schriftsteller Michel Houellebecq erinnern, aber auch viele andere Denker, ich erinnere Alain Finkielkraut in Frankreich, Peter Sloterdijk in Deutschland und so weiter - dass viele Zeitkritiker sagen, dass im Westen die Freiheit mehr und mehr zu einem Konsumgut geworden ist.

Wir glauben, ein Recht auf Glück zu haben

Dass wir die Freiheit als selbstverständlich hinnehmen, mit den Risiken nicht leben wollen und vor allem davon überzeugt sind, dass wir eigentlich alle das Grundrecht dazu haben, glücklich zu sein und uns dann sozusagen beim Hersteller beklagen, wenn dieses Glück nicht eintrifft, Hersteller in Anführungszeichen. Man geht dann an in Anführungszeichen die Gesellschaft, die was falsch gemacht hat, oder, natürlich das Hauptopfer dieser Anklagen, unsere Eltern, die immer was falsch gemacht haben. Deswegen seien wir jetzt nicht so glücklich, wie wir das glauben, als Recht zu haben.
Brink: Und deshalb können wir das Gut Freiheit nicht mehr schätzen. Kann es sein, dass wir da so eine Leerstelle haben, auf der einen Seite diesen unglaublichen Wohlstand, individuelle Freiheit, nach der ja viele streben, die da auch zu uns kommen, und dann die Frage nach dem Sinn des Ganzen, wo wir überhaupt gar nicht auf einen Grund kommen, vielleicht aus Bequemlichkeit?
Strenger: Zum Teil sicher aus Bequemlichkeit. Ich glaube, das kommt daher, dass wir nach circa sieben Jahrzehnten Leben, die historisch eine absolut unwahrscheinliche Periode sind von zumindest in Europa und den Vereinigten Staaten einem fast ununterbrochenen Frieden, von ständig steigendem Wohlstand, und vor allem sind da drei Generationen aufgewachsen, die nie haben für diese Freiheit kämpfen müssen, die sie sozusagen als selbstverständlich hinnehmen, und die Idee der Freiheit ist, dass man sich sowohl auf der individuellen Ebene immer wieder durchdenken und erkämpfen muss und dass man sie auch auf politischer Ebene nicht als selbstverständlich hinnehmen kann, sondern dass das etwas ist, dass die liberale Ordnung etwas ist, was an sich sehr fragil ist und das wir pflegen, hegen und verteidigen können müssen, diese Idee ist unpopulär geworden. Wir möchten, dass uns alles so bequem wie möglich sei und sozusagen per Amazon oder einem anderen Hersteller einfach zugestellt wird.
Brink: Was ist denn dann Ihr Wegweiser für die Zukunft in diesen unsicheren Zeiten?

Das menschliche Leben hat eine tragische Struktur

Strenger: Mein Wegweiser ist vor allem in erster Linie, wieder darauf hinzuweisen, dass wir etwas in der westlichen Kultur in den letzten 70 Jahren, etwas verdrängen wollen, und es ist, dass die menschliche – das menschliche Dasein, dass das menschliche Leben grundsätzlich eine tragische Struktur hat. Wie ich vorher gesagt habe, wir können alle immer zum Teil scheitern – wir scheitern alle in Anführungszeichen darin, dass wir, ob wir wollen oder nicht wollen, älter werden, gebrechlicher werden, dass wir alle letztendlich sterben, etwas, was unsere Kultur, so weit möglich, mit Techniken von Anti-Aging bis dazu, dass wir Krankheit und Tod so weit wie möglich aus dem öffentlichen Gesichtsfeld entfernen, zu verdrängen versuchen.
Und ich glaube, weil wir das zu verdrängen versuchen, leben wir dann in dieser Berechtigungsmentalität, dass uns eigentlich alles zusteht. Und die Grundthese des Buches ist, dass, wenn wir uns dieser tragischen Struktur wieder bewusst werden, und das ist etwas, was ich natürlich nicht erfunden habe, ich weise immer wieder darauf hin, dass dieses Thema von der klassischen griechischen Philosophie über neuzeitliche Philosophen wie Spinoza bis zu modernen Denkern wie Freud, Sartre und Heidegger immer wieder besprochen worden ist. Dann können wir uns eigentlich erst wieder wirklich bewusst sein, dass Freiheit ein Abenteuer ist, das einerseits seine Risiken hat, seine unvermeidlichen Risiken, und andererseits, dass gerade diese abenteuerliche Struktur das Leben lebenswert macht.
Brink: Der Psychologe und Philosoph Carlo Strenger. Danke für das Gespräch und einen schönen Tag noch für Sie nach Tel Aviv!
Strenger: Ich danke Ihnen ganz herzlich.
Brink: Und Carlo Strengers Buch "Abenteuer Freiheit. Ein Wegweiser für unsichere Zeiten" erscheint heute.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Carlo Strenger: Abenteuer Freiheit – ein Wegweiser für unsichere Zeiten
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
122 Seiten, 14 Euro

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