Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
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35 Jahre Weizsäcker-Rede zum Kriegsende: Erlösung durch Erinnerung?
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Hoffnung ist ein Lebenselixier
37:38 Minuten
Viele Menschen hoffen derzeit auf Lockerungen der Coronamaßnahmen. Die Politik sei gut beraten, der Hoffnung auf Besserung Raum zu geben, sagt der Philosoph Christian Bermes. Denn apokalyptische Szenarien lähmten die Gesellschaft.
Was dürfen wir hoffen? Diese philosophische Kernfrage Immanuel Kants stellt sich für viele Deutsche im Augenblick ganz konkret: Wann werden Schulen und Kitas öffnen und für wen? Wann dürfen Restaurants und Cafés wieder Gäste empfangen? Wann bieten Sportvereine, Schwimmbäder und Fitness-Studios endlich wieder Raum für unseren Bewegungsdrang? Die Bundesländer setzen unterschiedliche Akzente bei der Rücknahme der Beschränkungen. Manche Menschen verunsichert das umso mehr.
Erwartungen an die Zukunft brechen weg
Die Ausnahmesituation in der Pandemie ist eine Zeit des Hoffens und Bangens. Gerade darin zeige sich umso deutlicher, wie sehr die meisten unserer Handlungen auf verlässliche Annahmen über die Zukunft angewiesen seien, sagt der Philosoph Christian Bermes von der Universität Koblenz-Landau. Die Art und Weise, wie wir unser Leben organisieren, wie wir planen und wirtschaften, gründe in hohem Maße auf Erwartungen – Bermes spricht von einem "wissenden Zukunftsentwurf" oder von "Zukunftsmanagement":
"Dieses Zukunftsmanagement ist freilich offen für Änderungen. Es lässt auch Irrtümer zu, und es kann irritiert werden. Und solche Irritationen sind jetzt eingetreten."
Wenn die Erwartungen, auf die wir für gewöhnlich bauen, einer großen Ungewissheit weichen, sind wir auf Hoffnung angewiesen, so Christian Bermes: "Die Hoffnung ist eine Möglichkeit, trotz der Irritation, trotz der Unsicherheit an der Zukunft festzuhalten." Allerdings ändere dabei unsere Perspektive auf die Zeit die Richtung. Denn die gewohnte Vorwärtsbewegung, das Planen von Handlungen aus der Gegenwart in die Zukunft hinein, sei blockiert:
"Das Hoffen ist sozusagen ein Entwurf aus der Zukunft in die Gegenwart hinein - aus einer Zukunft, die wir nicht beherrschen, aus der heraus wir uns aber dennoch verstehen können, weil sie für unser Handeln offen ist."
Kants Gewissheit: unser Platz in der Welt
Immanuel Kant formulierte die zentralen Anliegen der Philosophie in drei großen Fragen: "Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?" Gefolgt von einer vierten Frage: "Was ist der Mensch?" Wissen, Handeln und Hoffen stecken in diesem Sinne also nicht nur das Feld der Philosophie ab, sagt Christian Bermes, "sie bestimmen zugleich auch die Conditio humana, das, was Menschen sind oder sein können." Ohne Hoffnung sei der Mensch für Kant gar nicht zu denken:
"Bei Kant heißt es in einer berühmten Bemerkung: 'Der Mensch kann davon ausgehen, dass er in die Welt passe.' Und das leistet die Hoffnung, dass der Mensch, obwohl vieles unsicher, vage, unklar, nicht beherrschbar ist, doch davon ausgehen darf, dass wir 'in die Welt passen', dass wir in ihr einen Platz haben."
Hoffen will gelernt sein
In der christlichen Tradition zählt Hoffnung neben Liebe und Glaube zu den Kardinaltugenden. Eine Auffassung, die in säkularer Form auch von der Tugendphilosophie des 20. Jahrhunderts vertreten werde, so Bermes: "Tugenden sind so etwas wie menschliche Lebensmittel", wesentliche Kompetenzen, "mit denen Menschen ihr Leben führen". Auch für Ludwig Wittgenstein habe Hoffnung zum "Lebensmuster des Menschen" gehört.
Trotz ihrer so grundlegenden Bedeutung verstehe sich Hoffnung allerdings nicht von selbst, betont Christian Bermes. Sie müsse gelernt und eingeübt werden. Hoffnung zu empfinden, sei uns nicht von Kindheit an mitgegeben, denn sie setze die Erfahrung von existenzieller Unsicherheit voraus, eben: der Irritation von Erwartungen.
Schluss mit "Bewirtschaftung der Apokalypse"
Was aber, wenn die Unsicherheit übergroß wird, etwa mit Blick auf die katastrophalen Prognosen zur Klimakrise? "Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in eine Bewirtschaftung der Apokalypse kommen", warnt Bermes angesichts der Klimadebatte. Ein medial verstärkter Wettbewerb von Schreckensmeldungen "erstickt die Hoffnung und lässt keinen Raum für menschliches Handeln".
Aus dem Krisenmanagement der Corona-Pandemie ließen sich jedoch auch positive Schlüsse für eine künftige Klimapolitik ableiten, ist Bermes überzeugt. In den vergangenen Wochen habe sich gezeigt, "dass die öffentliche Auseinandersetzung mit widerstreitenden Interessen zu einem positiven Ergebnis führen kann und dass nicht ein Mittel allein das einzige ist, um eine Krise zu lösen, sondern dass viele zeitlich und räumlich versetzte unterschiedliche Mittel zu einem Ergebnis führen."
Expertenwissen kann Politik nicht ersetzen
Es sei deutlich geworden, "dass politisches Handeln auf wissenschaftliche Expertise angewiesen ist", so Bermes, aber: "Zu dieser wissenschaftlichen Expertise gehört nicht einfach nur eine Wissenschaft, etwa eine Naturwissenschaft, sondern alle: von den Naturwissenschaften über die Sozial- und die Geisteswissenschaften bis hin zur Rechtswissenschaft."
Eines ist Christian Bermes mit Blick auf die Rolle der Wissenschaft in der Coronakrise ganz wichtig: "Politische Urteilskraft ist nicht durch das Expertenwissen zu ersetzen." Dass derzeit vielerorts Kritik am "Flickenteppich" unterschiedlicher Maßnahmen der Bundesländer laut wird, sieht er von daher eher gelassen. Zu Hoffnung gehöre "eine Offenheit für verschiedene Möglichkeiten", sagt Bermes, "und auch die Debatte darüber ist das Offenhalten von Zukunftsoptionen".
(fka)