Geert Keil: "Wenn ich mich nicht irre. Ein Versuch über die menschliche Fehlbarkeit"
Reclam, Berlin 2019
96 Seiten, 6 Euro
Warum wir uns nie sicher sein können – und es trotzdem Wahrheit gibt
36:24 Minuten
Verrechnet, verlesen, verrannt – uns unterlaufen ständig Fehler. Trotzdem gibt es Dinge, die wir für unbedingt wahr halten, zum Beispiel, dass eins plus eins zwei ergibt. Wie können wir fehlbar und uns zugleich einer Sache bombensicher sein?
Wer kennt das nicht: Man hat alles zehn Mal überprüft, ist sich hundertprozentig sicher und am Ende stellt sich heraus, dass man doch etwas Entscheidendes übersehen hat: Sei es bei der Matheklausur, beim Verfassen eines Textes oder gar beim Hausbau.
Auch der Berliner Philosoph Geert Keil kennt das aus eigener Erfahrung: "Ein Klassiker aus meinem Berufsleben wäre das Übersehen von Druckfehlern." Druckfehler sind kein Drama, aber doch ein Ärgernis. Übrigens: In Keils jüngstes Essay zum Problem der menschlichen Fehlbarkeit haben sich keine eingeschlichen, soweit wir sehen.
Viel gravierender sind Fehler natürlich, wenn viel von ihnen abhängt – etwa bei der Aufklärung eines Verbrechens. Die kriminalistische Arbeit sei ein gutes Beispiel für die Schwierigkeiten der Erkenntnissuche, meint Keil: Zwar heiße es aus Polizeikreisen immer, dass "in alle Richtungen ermittelt" werde, das aber könne gar nicht stimmen: "Weil die Zahl der Richtungen ist nach oben nicht begrenzt und es kann leicht passieren, dass man von alleine nicht darauf kommt, an der richtigen Stelle zu suchen."
Wahrheit lässt sich nicht garantieren
Dass wir uns gegen blinde Flecken und Irrtümer nicht verwehren können, sei schlicht menschlich. Menschen sind "fehlbare Wesen", so Keil: "Wir können uns nicht sicher sein." Selbst wissenschaftliche Verfahren könnten Wahrheit nicht garantieren: "Etwas, was beliebig viele Menschen mit beliebig guten Gründen beliebig lange für wahr gehalten haben, könnte trotzdem falsch sein – und die Wissenschaftsgeschichte bietet ja auch Beispiele dafür."
Jahrhundertelang galt als wahr, dass sich die Sonne um die Erde dreht – bis Kopernikus und seinen Nachfolgern der Nachweis gelang, dass es sich andersherum verhält. Spinat galt lange als besonders eisenhaltig, bis sich herausstellte, dass die Eisenmessung um eine Kommastelle verrutscht war – während heute als erwiesen gilt, dass auch dieser Dezimalstellenfehler ein wissenschaftlicher Mythos ist.
"Wahrheit ist nicht das, was wir sicher treffen, wenn wir nach allen Regeln der Kunst nachdenken oder Wissenschaft betreiben", betont Keil, "sondern Wahrheit ist das, was wir verfehlen können, obwohl wir nach allen Regeln der Kunst Wissenschaft betreiben."
Wenn aber die Fehlbarkeit Teil des Menschseins ist, wie können wir dann zugleich von gesichertem Wissen ausgehen – wie wir es doch tagtäglich tun, wenn wir Alltagswissen voraussetzen, etwa dass zwei plus zwei vier ergibt und die Sonne im Osten aufgeht.
Fehlbar sind Menschen, nicht Aussagen
Diese scheinbare Paradoxie löse sich auf, so Keil, wenn man berücksichtige, dass Fehlbarkeit eine Eigenschaft nicht von Theorien oder Aussagen, sondern nur von Menschen sei – nämlich "nicht gegen Irrtümer gefeit" zu sein, wie der Duden präzisiert. Vor diesem Hintergrund betont der Vorsitzende der Gesellschaft für Analytische Philosophie, dass die Existenz von Wahrheiten nicht von unserer Fähigkeit abhängt, sie zu erkennen:
"Das korrekte Ergebnis einer Rechenaufgabe kann nie falsch sein – aber Menschen können sich verrechnen und davon handelt die Fehlbarkeitsthese: Man kann sich darüber irren, was das richtige Ergebnis ist. Und das geht eben auch mit denjenigen Wahrheiten, die die Philosophen notwendige Wahrheiten nennen. Etwas, das notwendig wahr ist, wird deshalb nicht notwendigerweise als wahr erkannt."
Plädoyer für intellektuelle Demut
Vor diesem Hintergrund plädiert Keil einerseits für "intellektuelle Demut" und die Bereitschaft anzuerkennen, dass das für noch so wahr Gehaltene "sich später als Irrtum herausstellen könnte". Zugleich verwahrt er sich aber gegen einen radikalen Skeptizismus, der davon ausgeht, dass Menschen gar nichts wissen können.
Stattdessen plädiert er für einen alltagstauglichen Wissensbegriff, der "zulässt, dass Wissen mit etwas Glück verträglich ist – nämlich das Glück, dass keine extrem unwahrscheinliche Täuschung vorliegt". Und der also bis zum Beweis des Gegenteils das gründlich Überprüfte als wahr anerkennt.
Rechthaberei steht dem Rechthaben im Weg
Aufgabe der Philosophie ist es für Keil insofern nicht nach letzten Wahrheiten zu suchen, sondern eine "erkenntnistheoretische Aufklärung" über die Grenzen und Möglichkeiten des Wissens voran zu treiben: Mit Blick auf öffentliche Debatten, sieht Keil den Beitrag der Philosophie entsprechend darin, Diskussionstugenden vorzuleben und einzufordern; insbesondere "dem Dogmatismus und der Rechthaberei entgegentreten".
Rechthaberei vertrage sich nicht mit ehrlichem Erkenntnisinteresse – im Gegenteil "verringert es die Aussichten, Recht zu haben – dagegen erhöht es die Aussichten, wenn man aktiv Einwände gegen die eigene Position sucht. Und diese Tugend wird in der Philosophie kultiviert."
Keil erinnert an einen Tipp des Erkenntnistheoretikers Karl Popper: "‘Nimm einmal die stärkste deiner Überzeugungen, etwas, dessen du dir sehr sicher bist – und jetzt frage dich: Was würde diese Überzeugung als falsch erweisen?‘ Was müsste sich dafür herausstellen? Wenn einem da gar nichts einfällt, dann ist das ein schlechtes Zeichen."
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