Jan Skudlarek: "Wahrheit und Verschwörung: Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist"
Reclam, Leipzig 2019
208 Seiten, 18 Euro
Wie "toxischer Zweifel" unsere Gesellschaft vergiftet
10:25 Minuten
Impfungen machen autistisch und mit Kondensstreifen werden wir alle gefügig gemacht. Es gibt kaum etwas, das nicht geglaubt wird. Harmlos ist das nicht, findet Philosoph Jan Skudlarek. Er fordert eine "Zivilcourage für Wahrheit".
Christian Rabhansl: "Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist" – in diesem Buchtitel geben Sie uns indirekt schon ein bisschen Hoffnung, nämlich dass wir überhaupt erkennen können, was echt und wirklich ist.
Jan Skudlarek: Korrekt. Das wäre schade und fast schon sehr dystopisch, wenn wir sagen, wir können nichts erkennen und es gibt keine Wahrheit. So ein niederschmetterndes Buch, das wäre nicht nur philosophisch falsch, sondern das würden Leute auch nicht lesen wollen.
Rabhansl: Aber es ist trotzdem eine durchaus wichtige Unterscheidung. Ich lese auch bei Ihnen den Satz: "Eine Gemeinschaft braucht ihren Glauben an die Erkennbarkeit von Wahrheit, um überhaupt bestehen zu können."
Skudlarek: Absolut. Es geht weniger darum, dass eine letzte Wahrheit da ist, die man erkennen kann. Die kann ich natürlich auch in meinem Buch nicht transportieren. Die klassische Frage der Philosophie ist seit Jahrtausenden: Was ist Wahrheit? Und wie erkennen wir sie? Das ist eine legitime Frage, das ist eine philosophische Frage.
Eine Gemeinschaft braucht den Glauben an eine gemeinsame, eine verbindende Wahrheit. Allein das Erkenntnisinteresse selbst hat schon verbindende Funktion. Aber zum Beispiel auch, dass ich daran glaube, dass sich mein Arzt medizinisch besser mit meinem Körper auskennt als ich. Das ist eine rein funktionale Sache. Wenn ich das nicht mehr glaube, dann ist das natürlich schwierig: Warum soll ich dann zum Arzt gehen?
Allumfassender Zweifel statt gesunder Skepsis
Rabhansl: Aber da fängt es schon an, dass sehr viele Menschen davon ausgehen, dass Schutzimpfungen in Wirklichkeit eine Verschwörung der Pharmaindustrie sind und womöglich autistisch machen. Es gibt Theorien, dass der Klimawandel nur eine Erfindung von Eliten und Wissenschaftlern ist, weil die daran Geld verdienen, dass die "Chemtrails" der Bevölkerungskontrolle durch Regierungen dienen, der Breitscheidplatz-Anschlag als verdeckte Aktion der Bundesregierung und so weiter und so fort.
Sie haben eine ganze Menge solcher Theorien in Ihrem Buch versammelt und suchen nach Gemeinsamkeiten. Was ist ein Kern, der in allen Verschwörungstheorien steckt?
Skudlarek: Der Kern aller Verschwörungstheorien ist, dass ein gesundes und vielleicht auch nachvollziehbares Maß an Skepsis zugunsten eines allumfassenden Zweifels überschritten wird. Ich nenne das in meinem Buch einen toxischen Zweifel: Es wird letztendlich falsch gezweifelt. Man kann gut zweifeln, man kann sinnvoll zweifeln. Man soll im Leben zweifeln.
Aber die Frage ist, wie man es macht. Und Verschwörungstheoretiker sehen zweierlei. Erstens sehen sie sich getäuscht und belogen, oft von Mächtigen oder einer "offiziellen Story". Zweitens nicht nur belogen, sondern eben auch bedroht. Man wird aus einem Grund belogen: weil die Wahrheit bedrohlich im Hintergrund von irgendwelchen Machtmenschen und Hintermännern orchestriert wird.
Angst vor Manipulation und Bedrohung
Rabhansl: Das ist auch ein Kernsatz aller Verschwörungstheorien: Es gibt gefährliche Hintermänner mit bösen Absichten und über den wahren Lauf der Dinge werden wir belogen, so fassen Sie das im Buch zusammen. Das heißt, es ist nicht nur alles Lug und Trug, sondern es gibt da jemanden, der handelt.
Skudlarek: Ganz genau. Es ist nicht nur alles Lug und Trug, sondern die Leute wollen dir auch an den Kragen. Und deswegen ist es auch so, dass viele Leute sich nicht nur verunsichert fühlen, sondern auch aggressiv werden. Man wird nicht gerne bedroht, man fühlt sich in einer defensiven Position und möchte sich auch vielleicht irgendwie retten.
Rabhansl: Ich könnte jetzt, wenn ich solche Theorien nicht glaube, zynisch reagieren. Ich könnte mit den Achseln zucken und sagen: Mein Gott, es hat immer Spinner gegeben, die irgendeinen Blödsinn geglaubt haben. Wenn da gar keine Wirklichkeit in diesen Theorien steckt, warum soll sich denn die Wirklichkeit um diese Theorien scheren? Ist mir doch egal.
Skudlarek: Absolut, viele Leute reagieren auch so. Das war ehrlich gesagt auch meine erste Reaktion: Ach ja, das sind halt ein paar Spinner. Aber die letzten Jahre haben gezeigt, das sind nicht nur ein paar Spinner. Und damit meine ich nicht, dass es immer mehr Leute werden. Das stimmt zum Teil auch, je nachdem welche Theorie man untersucht.
Es gibt aber eine Bandbreitenwirkung von Verschwörungstheorien, die auch schon immer da war. Ironischerweise sind Verschwörungstheorien selbst eine Art Mainstreamphänomen: Diejenigen, die Mainstreamerklärungen ablehnen, sind selbst natürlich keine Untergrundenker und keine heimlichen Intellektuellen. Nein, es gibt Millionen Leute, die an Sachen wie die Impfverschwörung oder an Chemtrails glauben.
Das Gefühlt, zu einer geheimen Gruppe zu zählen
Rabhansl: Aber lustigerweise wollen sie sich als die kleine, geheime Gruppe fühlen. In Ihrem Buch lese ich auch: Die Wahrscheinlichkeit, an eine Verschwörungstheorie zu glauben, ist umso größer, je mehr ich den Eindruck habe, dass nur eine Minderheit daran glaubt.
Skudlarek: Korrekt. Das gehört zur Selbstwahrnehmung, ist aber empirisch nicht haltbar. Natürlich gibt es abwegige Verschwörungstheorien, die nur wenige Leute glauben. Aber es gibt viele, zum Beispiel auch die Lügenpresse-Verschwörungstheorie, also die Ansicht, dass die Medien – die Eliten, Frau Merkel, wer auch immer – uns manipulieren. Man kann das natürlich auch satirisch erzählen, dass Sie heute Morgen eine Anweisung bekommen haben, wie Sie mich zu interviewen haben.
Rabhansl: Mit der Frageliste.
Skudlarek: Genau, mit der Frageliste. Und am besten, wie wir das Thema im Sinne einer wie auch immer gearteten Propaganda hier am besten in der Öffentlichkeit platzieren. Es gibt Millionen Leute, die solchen Verschwörungstendenzen eher zustimmend als ablehnend gegenüberstehen.
"Viele Menschen fühlen sich dann im Besitz eines Spezialwissens"
Rabhansl: Zu analysieren, wie diese Mechanismen ablaufen, ist die eine Seite. Haben Sie auch herausgefunden, was eigentlich so reizvoll daran ist? Warum wollen manche Menschen das glauben?
Skudlarek: Durchaus. Viele Menschen fühlen sich dann im Besitz eines Spezialwissens, das sie auch von anderen abhebt.
Rabhansl: Also die sind etwas Besonderes?
Skudlarek: Ja, total. Ein Bild, das gerne bemüht wird: Es gibt die Masse der Schafe, die Herde glaubt die offizielle Story, weil sie getäuscht wurde, dumm ist oder beides. Verschwörungstheoretiker, die denken natürlich nicht von sich selber als Verschwörungstheoretiker.
Rabhansl: Sie haben ganz zu Beginn gesagt, dass Sie dieses Moment, wenn gesunde und richtige Skepsis ins Toxische kippt, dass Sie das als toxischen Zweifel beschreiben. Wo ist genau diese Grenze? Denn es gibt reale Verschwörungen. Bei VW, das kann man durchaus als Verschwörung bezeichnen, den Cum-Ex-Skandal, Sie nennen auch ein paar Beispiele für realer Verschwörungen. Wie unterscheide ich das?
Beweisfreier Erklärungskosmos
Skudlarek: Letzten Endes ist es anhand der Beweise zu unterscheiden und ob man überhaupt Beweise vorlegt. Die Panama-Papers und die VW-Geschichte, die sind nicht ans Licht gekommen, weil jemand spekuliert hat: "Ich glaube, wir werden von VW betrogen." Nein, da wurde im Labor getestet, wieviel wird von diesen Fahrzeugen ausgeschieden? Und was ist die Herstellerangabe? Gibt es da nicht vielleicht ein Programm? Schauen wir mal nach!
Dann wurden Hypothesen gebildet: Wir glauben, das könnte so und so sein. Diese Hypothesen wurden überprüft und die Werte waren zu hoch. Das waren wirklich empirische Werte und deswegen eine Theorie im eigentlichen wissenschaftlichen Sinne.
Verschwörungstheorien, auch wenn wir sie so nennen, sind keine wissenschaftliche Theorie. Oft liefern sie nicht nur keine Beweise, sondern falsche. Weil sie in ihrem Erklärungskosmos gar keine Beweise brauchen. Da wird etwas behauptet – und wer das Gegenteil behauptet, der lügt. Das ist der Mechanismus.
"Zivilcourage für Wahrheit"
Rabhansl: Ich war überrascht, wie spät Sie auf die in meinen Augen Gretchenfrage kommen: "Was tun wir denn jetzt gegen solche Verschwörungen?" Auf den letzten Seiten fordern Sie dann etwas, das Sie "Zivilcourage für Wahrheit" nennen.
Skudlarek: Ich denke, dass es sich nicht um harmlose Theorien handelt und um Sachen, wo man vielleicht Leute reden lassen sollte. So Gerede wie, dass es einen "Bevölkerungsaustausch" gibt. Das ist ein rechter, ein rechtsextremer Kampfbegriff. Und der wird verwendet, um eine Art homogene Bevölkerung zu fordern und gegen eine offene Gesellschaft zu agieren.
Rabhansl: Was ist jetzt dagegen diese Zivilcourage?
Skudlarek: Mit Zivilcourage eintreten und sagen: Alleine, dass du von Bevölkerungsaustausch redest, wie das viele von der AfD tun, das ist nicht nur sachlich unangemessen, es ist einfach eine Frechheit, dass du das tust. Da muss man eine Gegenrede starten.
Das gesellschaftliche Klima wird verschlechtert
Rabhansl: Also sich im Zweifelsfall auch in der U-Bahn umdrehen und fremde Leute ansprechen?
Skudlarek: Ja, ich denke schon! Wenn jemand auf Missionierungsdrang ist und sagt: Wir werden alle belogen, wir werden alle ausgetauscht, wir gehen alle vor die Hunde und überhaupt gibt es insgeheim überall Giftgas.
Das sind keine harmlosen Sachen. Das sind Sachen, die unser Miteinander, unser gesellschaftliches Klima verändern. Das sind Sachen, die unser Klima zum Schlechten verändern. Und wir sollten so gut es geht dagegenhalten, und denjenigen zur Rechenschaft ziehen, die selber Gift, als metaphorisches Gift, konspiratives Gift versprühen.
Natürlich nicht juristisch, aber einfach durch Gegenrede. Zu sagen: Moment mal! Was erzählst du da eigentlich? Und dann mit Fakten bestenfalls, mit Argumenten dagegenhalten. Wir sollten die jetzt nicht am Kragen packen und beschimpfen oder so.
Erstens, dass wir Erwachsene auf Augenhöhe dagegen anreden. Und zweitens, dass wir Jugendliche und Kinder befähigen, wahr und falsch besser auseinanderzuhalten. Sei es auf einer Quellenebene, sei es, dass wir denen beibringen, was eine seriöse und glaubwürdige Quelle, eine journalistische Quelle meinetwegen, von einer unglaubwürdigen, politisch aufgeladenen Hetzseite im Internet unterscheidet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
(leicht geänderte Online-Fassung/mwl)