Jens Hacke, Stephan Schlak (Hg.): H wie Habermas
Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft XV/3, Herbst 2021
Verlag C.H. Beck, München
144 Seiten, 16 Euro
Denker, der Diskurse kreuzt
28:55 Minuten
Kaum ein Denker hat die Bundesrepublik bis heute so stark geprägt wie Jürgen Habermas. Warum er lagerübergreifend faszinierte und was er uns heute noch zu sagen hat: Stephan Schlak und Eva von Redecker im Gespräch.
"Das ist eigentlich der normale Debattenverlauf in Deutschland: Wann kommt Habermas, wann hat er seinen Auftritt?", sagt der Ideenhistoriker Stephan Schlak über den Philosophen Jürgen Habermas. Und in der Tat: Kaum eine intellektuelle Gestalt hat die Bundesrepublik seit den 1960er-Jahren so stark geprägt wie der Philosoph und Kritische Theoretiker Jürgen Habermas, mit seinen wegweisenden Büchern, etwa über den "Strukturwandel der Öffentlichkeit", ebenso wie mit seinen regelmäßigen Debattenbeiträgen, besonders prominent im sogenannten Historikerstreit der Achtzigerjahre. Und bis heute schaltet sich der 92-Jährige regelmäßig in laufende Debatten ein.
Von links bis konservativ: lagerübergreifende Faszination
Die Zeitschrift für Ideengeschichte hat ihre jüngste Ausgabe nun, unter dem Titel "H wie Habermas", dem Vorlass von Habermas gewidmet, der an der Universität Frankfurt archiviert ist. Vor allem den Briefen, die ihm Denker verschiedenster Couleur im Laufe dreier Jahrzehnte geschrieben haben. Was diese Archivsuche zutage gefördert hat und was Habermas uns heute noch zu sagen hat, darüber spricht René Aguigah mit dem Herausgeber Stephan Schlak und der Philosophin Eva von Redecker.
Die "geistige Landschaft der alten Bundesrepublik abschreiten" wollten Schlak und sein Mitherausgeber Jens Hacke mit dieser Ausgabe anhand von Habermas, der, so Schlak, "fast ein festes intellektuelles Möbel im Interieur dieser Bundesrepublik" sei. Besonders interessierte sie an ihrer Suche im Habermas-Archiv, erzählt Schlak, "in wie vielen ganz verschiedenen Feldern, Registern, Diskursen er präsent ist", ein regelrechtes "Durchkreuzungsphänomen".
Das gelte auch für die politischen Lager: Schon früh "gab es ein lagerübergreifendes Interesse an diesem jungen Burschen, nicht nur in Kreisen der kritischen Theorie, sondern auch im konservativen oder liberalkonservativen, von Habermas aus gesehen, Feindeslager." Das lässt sich auch an den in der Zeitschrift versammelten Briefen an Habermas ablesen.
Wie zukunftsweisend ist Habermas heute?
Eva von Redecker steht selbst in der Tradition kritischer Theorie und wurde nicht zuletzt durch die Schriften von Habermas geprägt. Sie bewundert ihn aber nicht nur für seine maßgebliche theoretische Arbeit, sondern auch seine, bis heute anhaltende, intellektuelle Ausstrahlung: "Es gibt einfach diese geistige Präsenz, die einen – völlig unabhängig davon, ob man übereinstimmt – überwältigt."
Wie zukunftsweisen ist Habermas‘ Denken heute? Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über das Verhältnis von Holocaust und Kolonialverbrechen, zu der sich auch Habermas jüngst zu Wort meldete, gibt sich Redecker skeptisch: "Habermas steht wie kein anderer dafür, die Moderne und den westlichen Liberalismus hochzuhalten, einen wirklichen Fokus auf die Kolonialverbrechen zu legen, würde es sehr schwer machen, dieses Fortschrittsnarrativ aufrechtzuerhalten und weiter aus der Rationalität der westlichen Moderne die zukunftsweisenden Potenziale schöpfen zu wollen."
Andere Aspekte des Habermas’schen Denkens hält sie hingegen für immer noch brandaktuell, so etwa den der Legitimationskrise: "In einer Demokratie sind Krisen immer vermittelt darüber, wie sie von der Bevölkerung verstanden werden. Und ich würde sagen: Der Verlust von Vertrauen in politische Institutionen und das Zweifeln daran, ob unsere kapitalistische Wirtschaftsform den Herausforderungen der Zukunft standhalten wird, das sind ja ganz aktuelle Phänomene."
(ch)
Eva von Redecker: Revolution für das Leben
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2020
320 Seiten, 23 Euro