Philosoph Markus Gabriel

Virologie als neue Religion

08:36 Minuten
Porträt des Autoren Markus Gabriel, 2018.
Natur- und Geisteswissenschaften unterscheiden sich - was die Belastbarkeit der Fakten angeht - nicht groß voneinander, sagt der Philosoph Markus Gabriel. © imago images / Future Image / Christop Hardt
Markus Gabriel im Gespräch mit Dieter Kassel |
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Wir pflegen einen geradezu religiösen Glauben an die Objektivität der Naturwissenschaften, kritisiert der Philosoph Markus Gabriel. Dabei basierten deren Modelle oft nicht auf Fakten, sondern nur auf Annahmen.
Endlich orientiert sich Politik an der Wissenschaft - solche Sätze sind in der Coronakrise oft zu hören. Die Orientierung bietenden Wissenschaftler sind dann in der Regel Virologen und Epidemiologen. Geisteswissenschaftler haben demgegenüber derzeit wenig zu melden.

Die Dimension des Geistes ist ebenfalls wirklich

Diesem Primat der Naturwissenschaft widerspricht der Philosoph Markus Gabriel, Professor für Erkenntnistheorie an der Universität Bonn, seit langem. Auch in seinem neuen Buch "Fiktionen", das heute erscheint:
"Ziel des Buches ist, zu zeigen, dass die Dimension des Geistes, in der wir eben als freie Lebewesen existieren, keinen Deut weniger wirklich ist, vielleicht sogar wirklicher – wenn man denn graduieren möchte überhaupt – als das, was die Natur- und Technowissenschaften erforschen", sagt Gabriel.
Zwar sehe es häufig so aus, als würden Naturwissenschaftler einfach nur Daten erheben und damit völlig objektive Fakten generieren. So einfach sei die Sache aber nicht:
"Man präsentiert auch naturwissenschaftliche Fakten immer nur im Kontext von Modellen. Und Modelle funktionieren so ähnlich wie Fiktionen: Wenn ich zum Beispiel Prognosen über die Zukunft mache, über eine zweite Infektionswelle, ist das ja keine Vorhersage, dass sie kommt."

"Massive Schieflage" in unserem Weltbild

Schon die Annahmen, die naturwissenschaftlichen Modellen zu Grunde liegen, seien keine objektiven Tatsachen, so Gabriel kürzlich im Interview mit der NZZ: Zum Beispiel beriefen sich Virologen und Epidemiologen bei Aussagen über die Verbreitung von Corona vor allem auf ein Modell, das sich den Globus wie einen absoluten newtonschen Raum vorstelle.
Darin bewegten sich Menschen wie Punkte ständig und berührten einander. "Wer sagt denn, dass sich alle Menschen ständig bewegen? Was ist mit denen, die freiwillig zu Hause bleiben, den Einsamen, den traurigen Alkoholikern?", so der Philosoph in der NZZ: "Die Vorhersage-Tools, die wir für menschliches Verhalten verwenden, sind inadäquat."
Insofern diagnostiziert Gabriel eine "massive Schieflage" in unserem gegenwärtigen Weltbild. "Weil Naturwissenschaft und Technik – in diesen Tagen repräsentiert durch die Virologie und Computersimulationen – an die vormalige Stelle der Religion getreten sind."
(uko)

Markus Gabriel: Fiktionen
Suhrkamp, Berlin 2020
636 Seiten, 32 Euro

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