Philosoph Martin Seel

"Wir sind nicht im Besitz der Wahrheit"

23:20 Minuten
Martin Seel ist Professor für Philosophie in Frankfurt am Main.
Martin Seel ist Professor für Philosophie in Frankfurt am Main. © dpa / picture alliance / Arno Burgi
Martin Seel im Gespräch mit Christian Möller |
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Ein Philosoph, der nicht Recht haben will? Für Martin Seel ist ein zwangloses, frei umherschweifendes Denken die Voraussetzung für neue Erkenntnisse. In seinem Buch „Nichtrechthabenwollen“ zeigt er unter anderem, was Philosophie mit Jazz gemein hat.
Philosophie kann allzu leicht erstarren, wenn im Streit konkurrierender Theorien und Schulen jeder Recht behalten will, beklagt Martin Seel. Der Frankfurter Publizist und Philosoph bricht eine Lanze für "vagabundierendes Denken":
"Sich auf Abwege zu begeben, nicht geradeheraus zu operieren, sondern Gedanken zunächst einmal so anzunehmen, wie sie einem nun einmal kommen, das ist eine ganz entscheidende Produktivkraft der Philosophie, und es ist auch ein wichtiges Elixier des Denkens überhaupt."
Ganz ohne Rechthaben komme man natürlich nicht durchs Leben – und so geht es Seel keineswegs darum, ganz darauf zu verzichten, im Alltag ebenso wenig wie in der Philosophie. Entscheidend aber sei für beide, "nicht aufs Rechthabenmüssen fixiert" zu sein. Ohnehin bleiben Rechthaben und Nichtrechthaben für Seel eng aufeinander bezogen, wie "siamesische Zwillinge" könnten beide "nur zusammen gedeihen".

Ludwig Wittgenstein trifft Quentin Tarantino

Seels Buch trägt den Untertitel "Gedankenspiele". Es folgt einer Dramaturgie der Abschweifung: Sprunghaft und assoziativ verbindet der Autor in kurzen aphoristischen Sentenzen Beobachtungen aus dem Alltag oder dem Kino mit philosophischen und literarischen Gedanken. Dabei bringt er Marcel Proust mit Montaigne ins Gespräch, Wittgenstein mit Quentin Tarantino oder dem Saxophonisten John Coltrane.
Mit Lust an der Improvisation, in einem skizzenhaften Duktus nähert sich Martin Seels spielerische Denk- und Schreibweise selbst der Jazzmusik an. Tatsächlich ist Seel der Ansicht, dass Philosophie von Musik viel lernen kann – ebenso wie von der Literatur:
"Die Literatur kann menschliche Situationen in einer Komplexität der Verschränkung von Fühlen, Denken, Handeln, Geschehen darstellen, da kommt der philosophische Begriff nicht heran. Deswegen ist das Hören auf Literatur oder Poesie für die Philosophie so wichtig. Die Philosophie in ihren abstrakten Überlegungen darf nicht den Kontakt zu der tatsächlichen Komplexität und Unüberschaubarkeit unserer Selbst- und Welterfahrung verlieren."

Rechthaberei als Zeichen von Starrsinn

Philosophieren lebe davon, dass man bereit sei, "das, wovon man überzeugt ist, immer auch wieder aufs Spiel zu setzen", sagt Seel. Rechthaberei gelte nicht nur als moralische Verfehlung, sie sei auch "ein Mangel an geistiger Flexibilität":
"Wenn wir wissen wollen, wie die Welt tatsächlich ist, wie es mit uns tatsächlich steht, dann brauchen wir die Fähigkeit, uns nicht auf unsere jeweiligen Ansichten stur zu fixieren. Donald Trump ist das Extrembeispiel: Der behauptet einfach, alles, was ihm in den Kram passt, sei Fakt, und was ihm nicht in den Kram passt, sei Fake. Dieser abenteuerliche Umgang mit der Wahrheit entspricht überhaupt nicht der Botschaft meines Buches."

Kein Freibrief für die Wahrheit des Stärkeren

Denn Martin Seel redet keinem philosophischen Relativismus das Wort, der überhaupt keine gültige Wahrheit mehr anerkennen und damit einem Streit um die Wahrheit des Stärkeren Tür und Tor öffnen würde. "Wir sind nicht im Besitz der Wahrheit", stellt Seel klar, und gerade um der Wahrheitsfindung willen dazu aufgefordert, nicht rechthaberisch auf der eigenen Sicht der Dinge zu beharren:
"Wahrheitsbesitz ist nicht der Sinn der Wahrheitsorientierung, sondern die Wahrheitsorientierung besteht ja gerade darin, uns auch immer wieder fragen zu lassen, ob wir denn Recht haben, ob wir denn tatsächlich überlegt haben, ob wir denn bereit sind, unsere eigenen Auffassungen in Zweifel zu ziehen."

Martin Seel: Nichtrechthabenwollen. Gedankenspiele.
S. Fischer, 2018, 160 Seiten, 18 Euro

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