The Interview in English - Hören Sie hier das Interview mit Michael Sandel in der englischen Originalfassung:
Audio Player
"Wir waren medizinisch und moralisch unvorbereitet"
41:30 Minuten
Die Coronakrise trifft die USA besonders hart. Das sei kein Zufall, sagt der Philosoph Michael Sandel: Neoliberalismus und Leistungsdenken zerstörten den Zusammenhalt der Gesellschaft und trieben immer mehr Menschen in die Arme von Populisten.
Für Michael Sandel ist die Coronakrise in den USA ein politisches Desaster. Viel zu lange habe die Regierung die Gefahr der Pandemie heruntergespielt, und dann sei es ihr nicht gelungen, die richtige Balance zu finden, um die Bevölkerung effektiv zu schützen und gleichzeitig ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Produktivität in Gang zu halten.
Das Virus trifft ein gespaltenes Land
Doch Alltagsmasken, Schutzkleidung und Beatmungsgeräte seien nicht das einzige, woran es gefehlt habe, betont Sandel, der an der Harvard-Universität Politische Philosophie lehrt:
"Die Pandemie tauchte zu einem Zeitpunkt auf, als wir nicht nur medizinisch, sondern auch moralisch völlig unvorbereitet waren. Die Kluft in der Gesellschaft, die Polarisierung zwischen unterschiedlichen Positionen und die vorher bestehenden, über Jahrzehnte sich herausbildenden Ungleichheiten traten dadurch noch deutlicher hervor."
Dass gerade die Vereinigten Staaten im Kampf gegen das Virus so eine schlechte Figur machten, sei das Ergebnis einer Politik, die Solidarität und Gemeinsinn in der Gesellschaft seit Langem untergrabe, schreibt Michael Sandel in seinem neuen Buch "Vom Ende des Gemeinwohls":
"Genau jenes marktgetriebene Projekt der Globalisierung, das die USA ohne Zugang zur heimischen Herstellung von chirurgischen Masken und Medikamenten zurückgelassen hatte, hatte eine sehr große Zahl von Arbeitskräften ihrer gutbezahlten Jobs und sozialer Wertschätzung beraubt."
Der Traum vom Aufstieg der Tüchtigen
Während das Wirtschaftswachstum in den ersten dreißig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in allen Schichten der Gesellschaft für mehr Wohlstand gesorgt habe, sei die Kluft zwischen denen, die profitieren, und jenen, die verlieren, in den darauf folgenden Jahrzehnten immer tiefer geworden, so Sandel. Die Antwort der Politik auf die zunehmende Ungleichheit sei das Versprechen vom Aufstieg der Tüchtigen gewesen: "Wer hart arbeitet, kann alles erreichen."
Doch dieses Mantra der Leistungsgesellschaft habe mehr Schaden als Nutzen gebracht, sagt Sandel. Erfüllt habe sich der Traum vom ökonomischen Aufstieg ohnehin nur für relativ wenige. In den USA sei die Quote derjenigen, die in bescheidenen Verhältnissen aufwachsen und zu größerem Wohlstand gelangen, heute niedriger als in Deutschland und anderen europäischen Ländern oder in Kanada.
Was für Sandel jedoch erheblich schwerer wiegt, ist ein bestimmtes Verständnis von Erfolg, das mit der Leistungsideologie verbunden ist und aus seiner Sicht das gesellschaftliche Klima vergiftet. Denn die starke Betonung der individuellen Tüchtigkeit bestärke uns in der Annahme, dass Erfolg oder Misserfolg allein unser eigenes Verdienst sei:
"Diejenigen, die es nach oben geschafft hatten, meinten, sie hätten sich das alles selbst zuzuschreiben, während die, die unten geblieben waren, eben selbst schuld seien und sich nicht genügend angestrengt hätten."
Gemeinschaft: der blinde Fleck der Erfolgreichen
Was dabei völlig ausgeklammert werde, seien jedoch – ganz abgesehen von glücklicher Fügung – die zahlreichen sozialen Voraussetzungen für Erfolg und Wohlstand, die einen Menschen auf seinem Weg begleiten und erst möglich machen, dass er oder sie die eigenen Talente zur Entfaltung bringt: Familie, Lehrerinnen und Lehrer, ein positives und bestärkendes Umfeld in der Nachbarschaft, der Gemeinde, in Vereinen, Freundeskreisen oder öffentlichen Institutionen.
Ein auf die Leistungen Einzelner fixiertes Menschenbild, das all dies ausblende, führe zu Arroganz der Erfolgreichen und zur Verbitterung derjenigen, denen der Aufstieg nicht gelang. In ihrem Ärger über falsche Versprechungen und fehlende Anerkennung sieht Sandel einen wesentlichen Grund für den Zulauf, den populistische Bewegungen erfahren. Das gelte für die USA in besonderem Maße, zeige sich aber auch in europäischen Gesellschaften.
Gerechtigkeit jenseits des Leistungsprinzips
Michael Sandel will demgegenüber den Sinn für Solidarität und Gemeinwohl stärken und wirbt für eine Politik, die alle gesellschaftlichen Gruppen stärker in demokratische Prozesse einbindet. Seinen eigenen Beitrag dazu leistet der Mitbegründer des Kommunitarismus, indem er sein Wissen über die akademische Welt hinaus zugänglich macht. Seine kostenlosen Online-Vorlesungen zu Gerechtigkeit machten ihn einem weltweiten Publikum bekannt.
Eines der hoffnungsvollsten Zeichen im derzeit "eher trostlosen Bild" der westlichen Demokratien erkennt Sandel in der Bewegung "Black Lives Matter", der es gelungen sei, über verschiedene Generationen und ethnische Zugehörigkeiten hinweg eine große Wirkung zu entfalten: "Ich denke, sie könnte eine breitere Debatte darüber anstoßen, was zu einer gerechten Gesellschaft gehört, was wir einander als Bürger schuldig sind und was es bedeutet, sich für das Gemeinwohl einzusetzen."
(fka)
Michael J. Sandel: "Vom Ende des Gemeinwohls. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt"
Aus dem amerikanischen Englisch von Helmut Reuter
S. Fischer, Frankfurt am Main 2020
448 Seiten, 25 Euro
Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
Kommentar: Katzenbild in Perus Wüste - Seelenruhe im Überirdischen finden
In Perus Wüste wurde ein riesiges Katzenbild gefunden. Die 2000 Jahre alte Bodenzeichnung ist nicht nur ein archäologisches Rätsel, sondern gibt auch einen heilsamen, philosophischen Anstoß, meint Wolfram Eilenberger, gerade inmitten der Pandemie.