Philosoph Paul B. Preciado

„Wir erleben gerade eine Revolution“

33:51 Minuten
Anhänger von "Black Lives Matter" protestieren.
Antirassistische Proteste in den USA: Für den Philosophen Paul B. Preciado ein Ereignis von kaum zu überschätzender Bedeutung, © AFP/ Royn Beck
Paul B. Preciado im Gespräch mit Simone Miller |
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Die Wucht der Proteste nach dem Tod von George Floyd hat viele überrascht. Für den Queer-Theoretiker Paul Preciado ist sie nur folgerichtig: Er erkennt einen „revolutionären Moment“, der sich einfügt in eine grundsätzliche Umwälzung des Kapitalismus.
Seit vor knapp zwei Wochen der Afroamerikaner George Floyd von einem weißen Polizisten getötet wurde, reißen die Proteste in den USA nicht ab. Inzwischen sind sie auch in anderen Ländern angekommen, unter anderem in Frankreich, wo es ebenfalls immer wieder zu dramatischen Fällen von Polizeigewalt kommt.
Der Philosoph Paul B. Preciado unterstützt die Proteste in Paris. Aus seiner Sicht sind sie ein „ganz besonderer revolutionärer Moment“ im Kampf gegen „die Fortführung der Kolonialregime und des damit einhergehenden Rassismus“. Er hält sie sogar für die „wichtigsten Aufstände seit den Sechzigerjahren“.

Proteste als Teil einer epochalen Umwälzung

Preciado sieht in ihnen kein isoliertes Ereignis, sondern die Zuspitzung einer ganz grundsätzlichen Verschiebung der Grundlagen unseres Zusammenlebens, die wir seit einigen Jahren erleben:
„Der ganze Planet ist plötzlich in einer epochalen Veränderung, die man eigentlich nur mit dem 16. Jahrhundert vergleichen kann, als der Kapitalismus und der Kolonialismus sich ausgebreitet haben, die Druckmaschine erfunden wurde. Und diese große Veränderung damals würde ich vergleichen mit dieser epistemologischen Verschiebung, die heute stattfindet.“
Paul B. Preciado hält eine Rede auf einem Podium.
Unser Gesprächsgast, der Philosoph Paul B. Preciado.© imago/ Paco Freire
Paul Preciado, ehemals bekannt als Beatriz Preciado, hat sich seit 2013 in zahlreichen Texten mit verschiedenen Phänomenen der Überschreitung von Identitäten und Grenzen befasst – auch mit der eigenen Veränderung im Zuge seiner Geschlechtsangleichung. Im Zentrum seines Nachdenkens aber steht die Transformation des kapitalistischen Systems – das für ihn zugleich auch ein Regime der patriarchalen und kolonialen Unterdrückung ist:
„Was ich versuche zu sagen, ist, dass der Kapitalismus nicht nur ein Wirtschaftssystem ist, sondern auch eine Regierungsweise: Sie produziert Subjektivität und Subjekte, die darauf reduziert werden, Reichtum zu produzieren oder sich zu vermehren.“

Kapitalismus und Rassismus gehören zusammen

Grundlegend für die Herrschaft des Kapitalismus sind für Preciado Begriffe und Vorstellungen, die sich seit dem 16. Jahrhundert herausgebildet haben und uns eine bestimmte Idee von uns und anderen vorgeben: „Beispielsweise die Familie als Kern der sexuellen Reproduktion, oder der menschliche Körper als eine Art lebendiger Maschine für Konsum und Arbeit, die Zweigeschlechtlichkeit, oder aber, dass Heterosexualität gleichgesetzt wurde mit Normalität.“ Darüber hinaus sei auch die Erfindung des „Rasse“-Begriffs elementar dafür gewesen, um die koloniale Ausbeutung zu legitimieren.
All diese Begriffe und die mit ihnen einhergehenden Ideen von Identität und Gesellschaft sieht Preciado derzeit unter Beschuss, weshalb auch das „patriarchal-kapitalistische Regime“ insgesamt ins Wanken gerate: „Das ist wirklich ein weltpolitisch wichtiges Ereignis – für mich eigentlich das historisch wichtigste Ereignis der letzten drei Jahrhunderte.“
Allerdings hält er diese „Revolution“ keineswegs für gewonnen, im Gegenteil beobachtet er zugleich massive Gegenbewegungen – autoritäre Kräfte wie Trump und Bolsonaro kämpften darum, erreichte Veränderungen rückgängig zu machen. Preciado spricht von einem „Krieg“, der bereits zahlreiche Opfer fordere.

Solidarität statt Identität

Umso wichtiger sei es, über die bisherige Identitätspolitik hinauszugehen: „Die Feministinnen haben für sich gekämpft, die Homosexuellen haben für sich gekämpft. Und diese Kämpfe waren immer nur die von einzelnen Interessengruppen. Man hat sich nicht verbündet. Diese alten Kämpfe haben nur die Identitätspolitik unterstrichen, aber die Fundamente des Kapitalismus nicht angegriffen.“
Stattdessen müsse nun ein „soma-politisches Bündnis“ entstehen, das nicht auf gemeinsamen Identitäten beruhe, sondern auf einem gemeinsamen Anliegen: „Das heißt, dass sich die enteigneten Körper, all diese Gruppen, die von der Gesellschaft ausgegrenzt worden sind, jetzt vereinen und versuchen, das patriarchal-kapitalistische System zu bekämpfen.“
Ein ebensolches Bündnis beobachtet Preciado bei den gegenwärtigen Protesten im Anschluss an den Tod Tod George Floyds: Dieselben Leute, die Anfang März in Paris auf feministischen und queeren Demonstrationen waren, setzten sich auch gegen Rassismus ein: „Ich sehe ein gemeinsames kritisches Programm, das wirklich für eine Veränderung der Gesellschaft kämpft. Und dabei spielt natürlich auch eine radikale ökologische Veränderung eine wichtige Rolle.“

Eine andere Welt entwerfen

Denn, so betont Preciado, wir müssten auch Wege finden, wie wir die Erde mit nicht-menschlichen Wesen teilen können „und wie wir neue Formen des Produzierens und Konsumierens von Energie finden, die nicht nur auf der Ausbeutung der Erde und mancher Körper beruht.“
Auf der Suche nach neuen Ideen, setzt Preciado insbesondere auf unsere Vorstellungskraft, wie sie etwa in Poesie, Literatur, Kunst zum Ausdruck komme. Zugang dazu hätten nicht nur Künstler, sondern „alle Menschen die sich irgendwie künstlerisch ausdrücken. Damit wir gemeinsam eine neue Welt schaffen können, in der wir leben wollen.“
(ch)

In unserer Sendung hören Sie Paul B. Preciado mit einer deutschen Übersetzung. Das auf Englisch geführte Gespräch können Sie hier hören und an dieser Stelle als MP3 herunterladen.

Paul B. Preciado: „Ein Apartment auf dem Uranus – Chroniken eines Übergangs“
Suhrkamp, Berlin 2020
368 Seiten, 20 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

Philosophischer Kommentar zu Polizeigewalt: Was tun, damit alle atmen können?
Polizeigewalt gibt es auch in Deutschland. Dass sie zu wenig problematisiert wird, hat auch damit zu tun, dass Weiße oft die Perspektive der Polizei einnehmen. Das muss sich ändern, meinen Vanessa Thompson und Daniel Loick.

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