Philosoph Slavoj Žižek über "Das verfehlte Absolute"

Schöner scheitern beim Sex

37:51 Minuten
Porträt von Slavoj Zizek, slowenischer Philosoph.
Wer Sex hat, gibt sich nicht seiner Natur hin, sagt Slavoj Žižek – wir seien auch im Intimsten in kulturelle Prägungen, Fantasien und Machtverhältnisse verstrickt. © Getty Images / Gamma-Rapho / Ulf Andersen
Slavoj Žižek im Gespräch mit Stephanie Rohde |
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Die Philosophie habe die großen Fragen aus den Augen verloren, meint der Kulturkritiker und Philosoph Slavoj Žižek. Es sei höchste Zeit, das Wesentliche wiederzuentdecken. Zum Beispiel: Sex als eine Art des Versagens.
Haben wir einen freien Willen? Besteht unser Universum ewig? Was ist Realität? Solche grundlegenden Fragen der klassischen Metaphysik habe die Philosophie seit Langem ausgeklammert, sagt Slavoj Žižek. Stattdessen habe die Öffentlichkeit sich von Hirnforschern, Astrophysikern oder Psychologen Antworten darauf erhofft, doch damit sei weder der Philosophie noch den betreffenden Wissenschaften gedient, so Žižek. Diese Verlagerung der Zuständigkeiten sei "eine Tragödie".

Im Kreisverkehr der Diskurse

Bis vor ungefähr zehn Jahren sei die Philosophie von einer Ära der Postmoderne und Dekonstruktion geprägt gewesen, die dem Denken enge Grenzen setzte, sagt Žižek. Direkte Fragen nach so etwas wie "Wahrheit" zu stellen, sei in dieser Zeit unmöglich gewesen: "Alles, was einem noch blieb, war, dass man fragte, innerhalb welchen Diskurses die Verwendung eines bestimmten Begriffs noch legitim sei."
Ein existenzielles Phänomen, das der Philosophie auf diese Weise entglitten sei, ist Sex. Für Žižek stehen Sexualität und Fragen der geschlechtlichen Identität in einem engen Zusammenhang mit der Erfahrung des Absoluten – genauer: mit dem unvermeidlichen Scheitern beim Versuch, mehr als eine flüchtige Berührung mit dem Absoluten zu erleben.

Lust, die sich selbst genügt

"Sex ist für mich in seiner elementaren Grundstruktur eine Art des Versagens", erklärt Žižek. Denn das sexuelle Erleben folge einem immer gleichen Muster: Jemand verspüre eine Lust oder ein Verlangen, könne sein eigentliches Ziel jedoch nicht erreichen – "aber dann zieht man Lust aus diesem Versagen selbst." Diese Struktur des sexuellen Erlebens zeige sich etwa in der Art und Weise, wie unsere Körper erotisiert werden, so Žižek:
"Nehmen wir zum Beispiel das Saugen am eigenen Finger. Saugen dient zunächst einmal der Bedürfnisbefriedigung: Das Baby möchte etwas trinken. Dann aber entsteht ein reflexiver Umschlag: Statt letztlich direkt den Gegenstand der Bedürfnisbefriedigung zu bekommen, überträgt man auf das Saugen, das zur Quelle der Befriedigung wird, diese eigentliche Lust."

Haben Katholiken Sex nur falsch verstanden?

Ganz ähnlich stehe es um das Verhältnis von Sexualität und Fortpflanzung, sagt Žižek: "Etwas, was biologisch eigentlich ganz anders gedacht war, nämlich dem Bedürfnis der Fortpflanzung zu genügen, wird nun ein Ziel an sich selbst." Deshalb habe er auch jene Katholiken nie verstanden, die behaupteten, dass Sex "animalisch" sei, wenn er allein um seiner selbst willen vollzogen werde, und darauf beharrten, dass Sexualität der Fortpflanzung dienen müsse, um "menschlich" zu sein. Žižek: "Tut mir leid, ich glaube, die Tiere treiben es doch genau zur Fortpflanzung."

Hören Sie hier das Originalinterview mit Slavoj Žižeks Antworten auf Englisch:
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Menschliche Sexualität dagegen sei "nicht vom Tier her zu verstehen", erklärt Žižek. Dabei bezieht er sich auf Sigmund Freud. Der Erfinder der Psychoanalyse habe Sex als eine "Begegnung jenseits der natürlichen Grenzen" aufgefasst. Freud sei davon überzeugt gewesen, dass menschliche Sexualität "nicht biologisch bestimmt" sei, sondern "in sich immer auch den Todestrieb, die Perversionen und so weiter" enthalte, sagt Žižek: "Tiere haben in diesem Sinne keine Sexualität. Nur der Mensch hat in dieser engeren Bestimmung der Sexualität dieses Miteinander von tödlicher Leidenschaft."

LGBT als drittes Element

Slavoj Žižek ist der Ansicht, dass geschlechtliche Identitäten von weiblichen und männlichen Elementen geprägt werden, er halte jedoch nichts davon, anhand dieser Unterscheidung Idealbilder des "typischen Manns" oder der "typischen Frau" abzuleiten. So glatt lasse sich dieser Unterschied gar nicht auflösen, weshalb Žižek ein drittes Element mit in den Blick nimmt:
"Es gibt Männer, es gibt Frauen, und es gibt LGBTs", sagt er, "und diese LGBTs verkörpern, wie jede eindeutige sexuelle Zuschreibung eine Fehldeutung ist."
Weibliche und männliche Homosexuelle, Bi- und Transsexuelle, die mit dem englischen Kürzel LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender) bezeichnet werden, weisen für Žižek auf eine Unschärfe hin, die den im Sex- und Geschlechter-Diskurs insgesamt kennzeichne: "In gewisser Weise ist Sexualität grundsätzlich von einer Unmöglichkeit der angemessenen Darstellung dieser Zweiteilung geprägt", sagt Žižek. "Für mich stehen die LGBT nicht außerhalb dieser binären Zuschreibung, sie verkörpern den Widerspruch in sich, den Sexualität als solche auch darstellt."

"Sei du selbst" als neuer Zwang

In einem Punkt liegt der Philosoph jedoch mit zahlreichen Angehörigen der LGBT-Gemeinschaft über Kreuz: Viele von ihnen seien der Ansicht, es habe "vor unseren heutigen Geschlechtszuschreibungen" eine Art "polymorph perverses Magma" gegeben – einen Zustand, frei von einschränkenden Prägungen aller Art, so Žižek. "Dann sei aber das böse Patriarchat gekommen mit seiner binären Unterdrückung in bestimmte Identitäten."
Doch diese Vorstellung von einem "unschuldigen Urzustand" weist Žižek zurück: "Ich glaube, es gibt so etwas wie polymorph Perverses nicht. Ich glaube vielmehr, dass in der Sexualität von Anfang an dieses Rätselhafte, nicht völlig Auflösbare enthalten ist, dieser Selbstwiderspruch, dieses Fiasko." In der Utopie, allen Identitätszuschreibungen enthoben zu sein, erkennt Žižek sogar Anklänge an eine kapitalistische Erfolgslogik unserer Tage, die eigene Zwänge mit sich bringe:
"Was heute von uns gefordert wird, ist ja doch keineswegs mehr, dass man sagt: Sei ein Mann! Sei eine Frau! Nein, erwartet wird doch heute: Sei dynamisch, verwirkliche dich selbst, lote deine Möglichkeiten aus, erfinde dich neu! Und darin kann ich als solches nichts Subversives erkennen, in diesem Aufruf zur Subjektivität. Das wird uns keine Unschuld zurückbringen."
(fka)

Slavoj Žižek: "Sex und das verfehlte Absolute"
Aus dem Englischen von Axel Walter und Frank Born
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2020
592 Seiten, 50 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

Kommentar zu Demokratiefeindlichkeit: Schwören, nicht verschwören!
Verschwörungserzählungen sind gefährlich und zersetzend. Nur eine nicht – die, in der die meisten von uns leben. Für sie sollten wir sogar dankbar sein, kommentiert Wolfram Eilenberger.

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