Mehr Macht für die Parlamente!
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In der Coronakrise wird der Ruf lauter, die Parlamente in Bund und Ländern stärker an der Entscheidungsfindung zu beteiligen. Der Philosoph Martin Hartmann begrüßt die Debatte und kritisiert eine "Tendenz zur Erlassrepublik".
Dieter Kassel: Es gibt eine große Zahl von Parlamenten in Deutschland – das fängt schon in den Rathäusern an, dann gibt es natürlich in jeder Landeshauptstadt eins und dann noch den Deutschen Bundestag. Nur ist in den letzten Monaten in all diesen Parlamenten vergleichsweise wenig debattiert oder gar entschieden worden, denn die meisten Entscheidungen, was Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus angeht, wurden einfach erlassen. Sie gingen von der Bundesregierung aus, in der Regel von der Kanzlerin und dem Gesundheitsminister, an den Parlamenten vorbei.
Gesundheitsminister Jens Spahn will auch, dass das so bleibt, und hätte gerne noch ein drittes Seuchenschutzgesetz, mit dem er weiterhin per Erlass Dinge entscheiden kann. Das wollen viele nicht. In Deutschland wird auch in der Politik inzwischen heftig darüber diskutiert, dass solche Entscheidungen dorthin wieder zurückkehren sollten, wo sie hingehören, in die Parlamente. Über diese grundsätzliche Frage reden wir jetzt mit Martin Hartmann, Professor für Philosophie an der Universität Luzern. Kommt diese Diskussion im Moment genau zur richtigen Zeit, weil darüber monatelang kaum geredet wurde, oder kommt sie gerade zur absoluten Unzeit, weil die Infektionszahlen wieder steigen?
Der Lockdown, von oben dirigiert
Hartmann: Sie kommt zur richtigen Zeit, und ich hätte sie sogar lieber früher schon gehabt. Weil Sie jetzt gesagt haben, wir haben monatelang überhaupt nicht darüber geredet: Das würde ich so gar nicht unterschreiben. Es gab immer mal Diskussionen, dass zu viel von oben entschieden wird.
Das Problem damit ist, dass dadurch natürlich die Vielfalt der Perspektiven, die in der Gesellschaft und in den politischen Parteien ohnehin vertreten sind, gar nicht mehr angemessen repräsentiert wurde. In meinen Augen ist es nötig, dass das jetzt endlich kommt. Ich finde, es kommt zu spät, und die Frage ist, was das jetzt auslöst.
In meinen Augen war schon der erste Lockdown, so verständlich und wichtig es war, da schnell zu handeln, zum Teil zu stark von oben dirigiert. Aber da hat das Vertrauen offensichtlich noch funktioniert, wir haben noch geglaubt, dass das richtig und nötig ist. Das bricht jetzt auf, und das ist auch nicht per se schlecht.
Kassel: Apropos Vertrauen, wo Sie das Wort jetzt schon ins Spiel bringen: Glauben Sie, das Vertrauen in die Politik aufseiten der Bürgerinnen hat abgenommen aufgrund dieser Dekretentscheidungen der letzten Monate?
Hartmann: Es ist auf jeden Fall ein bisschen erschüttert, weil teilweise Entscheidungen gefällt wurden, von denen gar nicht klar war, auf welcher Basis sie gefällt wurden. Sie wurden nicht mehr so gut kommuniziert.
Die Virologen, die in der ersten Lockdown-Phase noch ziemlich dominant waren, die gibt es immer noch, aber sie scheinen keine so große Rolle mehr zu spielen. Das heißt, die Kommunikation ist ein bisschen schlechter geworden. Man fragt sich manchmal – Beherbergungsverbot ist ja ein Stichwort –, was soll das jetzt, was bedeutet das?
Ein weiteres Problem ist, dass der zweite Lockdown für viele wirklich existenziell gefährlich wäre. Damit rückt doch etwas viel näher, was vielleicht im ersten Lockdown noch gar nicht so nahe war, nämlich die Arbeitslosigkeit oder die Perspektivlosigkeit.
Damit spielt man jetzt ein bisschen Unmut, macht diese Ängste und macht sich vielleicht auch gar nicht klar, was das bedeutet für einige Menschen. Es wäre jetzt unbedingt wichtig, dass wir breiter diskutieren und nicht nur die Parlamente miteinbeziehen, sondern auch die Zivilgesellschaft. Die Parlamente sind ein Ort, wo sich das ein bisschen widerspiegelt.
Man hatte ein bisschen Zeit, es gab die entspanntere Phase im Sommer, und das hat man nicht gemacht, was vielleicht auch dafür spricht, dass diese Tendenz zur Erlassrepublik auch nicht ganz neu ist - und Corona nur auf die Spitze treibt, was vorher schon vorhanden war.
Corona hat die Macht der Exekutive gestärkt
Kassel: Sie haben das Gefühl, dass die Bundeskanzlerin oder vielleicht auch andere Mitglieder der Regierung auch schon vorher - wo es legal und demokratisch geht - versucht haben, lange Debatten und Entscheidungen in Parlamenten zu vermeiden?
Hartmann: Die Kanzlerin ist nicht berühmt für sensationelle Parlamentsdebatten. Es gibt in der Politikwissenschaft generell die Beobachtung, dass die Exekutiven in manchen Ländern stärker werden. In manchen ist die Exekutive ohnehin strukturell stärker, wie vielleicht in Frankreich, aber auch in den USA. Eine leichte Tendenz dazu gab es auch schon in Deutschland.
Ich bin jedenfalls nicht der Meinung, dass es sehr große, vielfältige Parlamentsdebatten gegeben hat in Punkten, wo es sie hätte geben sollen – also bei wichtigen, gewichtigen Fragen. Corona hat da eine Tendenz bestärkt, die ein bisschen gefährlich ist und die diese Einseitigkeit zugunsten der Exekutive momentan auszeichnet. Da müssen wir wirklich höllisch aufpassen, wenn wir demokratietheoretisch denken, dann muss das breiter fundiert sein.
Und das mit dem Vertrauen ist auch eine Sache, da kann man drüber reden, das kann man sich durch Umfragen bestätigen lassen. Aber das deckt auch viel zu, und zwar nicht nur die Verschwörungsleute deckt es zu, die sowieso der Meinung sind, dass sie nicht gehört werden, sondern auch die Vielfalt anderer Positionen in der Gesellschaft. Das ist eine Sache, die jeden unterschiedlich trifft. Das macht sich die Politik vielleicht nicht klar.
Auch bei Fukushima fehlte die Debatte
Kassel: Wenn Sie jetzt gesagt haben, Sie haben das schon vorher gespürt, bei gewissen Themen hätte es Ihrer Meinung nach eine breitere Debatte in und außerhalb der Parlamente geben müssen, bei welchen denn zum Beispiel?
Hartmann: Ich denke zum Beispiel an Fukushima, da gibt es die Katastrophe, und dann wird relativ schnell, überraschend schnell plötzlich ein Rückzieher gemacht von der Atomkraft, wo man vorher in relativ langwierigen Diskussionen doch wieder Zugeständnisse gemacht hatte. Es gibt Situationen, wo es politisch offensichtlich manchmal sehr, sehr schnell geht, wo man überrascht ist.
Normalerweise mahlen die Mühlen der Demokratie langsam, und das wird ihr auch oft vorgeworfen – was man ihr aber nicht vorwerfen sollte. Sie muss manchmal eben langsamer mahlen, weil es eben eine Vielfalt von Perspektiven gibt.
Da gibt es schon immer mal wieder einzelne Entscheide – man könnte jetzt über die EU reden, wo es auch eine wilde Diskussion seit Langem gibt, dass es ein Demokratiedefizit gibt, dass das Parlament zu schwach ist. Da gibt es viele Entscheidungen, die innerhalb der Kommission gefällt werden oder eben in einem kleineren Rahmen. Das ist kein neues Problem, Corona spitzt es aber wahnsinnig zu, auf eine Weise, die jetzt hoffentlich dazu führt, dass wir substanzieller mal wieder diskutieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.