Philosoph über die Macht der Korruption

Plädoyer für einen aufgeklärten Egoismus

36:18 Minuten
Illustration eines Magneten, der Geld anzieht.
Korruption ist Machtmissbrauch zum eigenen Vorteil, sagt Heiner Hastedt, und sie geht immer zulasten des Gemeinwohls. © Imago / agefotostock
Heiner Hastedt im Gespräch mit Stephanie Rohde |
Audio herunterladen
Er werde den Sumpf der Eliten trockenlegen, versprach US-Präsident Donald Trump. Jetzt wird ihm selbst persönliche Bereicherung vorgeworfen. Der Philosoph Heiner Hastedt erklärt, wie Korruption dem Gemeinwohl schadet – und wie das zu verhindern wäre.
Jetzt, da die Welt fassungslos mit ansieht, wie die Amtszeit von Donald Trump in chaotischen Szenen zu Ende geht, ist es kaum noch vorstellbar, dass derselbe Mann vor seinem Einzug ins Weiße Haus damit punkten konnte, sich als entschlossener Kämpfer gegen Korruption in Szene zu setzen. Trump, dessen Anhänger am 6. Januar das Kapitol in Washington stürmten, um die Bestätigung seines Nachfolgers Joe Biden zu verhindern, habe vor vier Jahren im Rennen um die Präsidentschaft enorm davon profitiert, dass er ein Zerrbild von angeblich durch und durch korrupten Eliten zeichnete, sagt der Philosoph Heiner Hastedt von der Universität Rostock.

Staatsbesuche in Hotels des Präsidenten

Kaum im Amt, habe Trump sich jedoch umso schamloser bereichert, indem er seine Position ausnutzte. Der Vorwurf, er habe Staatsbesuche und andere offizielle Veranstaltungen fast ausschließlich in Hotels seines eigenen Immobilien-Imperiums abgehalten, sei nur einer von vielen Hinweisen darauf. "Wenn Populisten an die Macht kommen, sind sie gesteigert korrupt", so Hastedt, dabei bilde Trump beileibe keinen Einzelfall.
Auch Volkswirtschaften in Europa würden durch Korruption erheblich belastet, betont Hastedt. Er verweist auf das Beispiel Rumänien: Ein Sechstel des Einkommens der Bevölkerung gehe dort durch Korruption verloren, wie eine Studie im Auftrag der Grünen-Fraktion im EU-Parlament ergeben habe. Besonders drastische Verluste erlitten viele afrikanische Staaten durch Schmiergeldzahlungen und persönliche Vorteilsnahme in Politik und Wirtschaft. Gerade dort zeige sich deutlich: "Zwischen Armut und Korruption gibt es eine enge Beziehung, insofern sind es weltweit keine Kleinigkeiten, über die wir da reden."

Gekaufte Stimmen zur Abschaffung der Sklaverei

Hastedts Grundverständnis von Korruption lautet: "Missbrauch von Macht zum eigenen Vorteil". Dieses Verhalten sei schon deshalb moralisch verwerflich, weil es stets zulasten des Allgemeinwohls gehe. Allerdings sei es keineswegs einfach, im Einzelfall eine klare Grenze zu ziehen und zu entscheiden, wo der legitime Gebrauch von Macht ende und in Machtmissbrauch umschlage.
In seinem Buch "Macht der Korruption. Eine philosophische Spurensuche" führt Heiner Hastedt ein historisches Beispiel an, das diese Schwierigkeit exemplarisch veranschaulicht: Als Abraham Lincoln, der 16. Präsident der USA, im Januar 1865 mit einem Zusatzartikel zur Verfassung die Sklaverei abschaffte, habe er die dafür erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit im Repräsentantenhaus nur mithilfe von gekauften Stimmen erlangt. "Korruption im Namen der Moralität also?" Im Buch gibt Hastedt auf diese Frage "ein vorsichtiges Ja" zurück.

Wo "Vitamin B" zu "Vitamin K" wird

Aber steht Lincolns Schachzug, selbst wenn er auf keinen persönlichen Vorteil abzielt, nicht ebenso wie andere korrupte Vorgehensweisen im Widerspruch zum Allgemeinwohl, indem er die Prinzipien der Demokratie untergräbt? Lässt sich auf unrechtmäßige Weise überhaupt Gerechtigkeit schaffen? "In der Hinsicht bin ich Wertepluralist", sagt Hastedt.
Im konkreten Fall bedeute das für ihn einerseits: "Der Zweck heiligt nicht die Mittel." Aus Lincolns Erfolg für die Freiheitsrechte der Versklavten lasse sich keine Rechtfertigung für Korruption ableiten. "Aber es gibt eben den in diesem Fall, glaube ich, brechenden Wert in dieser historisch prekären Situation", fügt Hastedt hinzu.
Was korrupt sei und was nicht, könne letztlich nicht allgemein definiert werden, sagt Hastedt: "Da gibt es keinen einfachen Kriterienkatalog. Ich glaube, wir haben sehr viel Interpretationsspielraum, den wir auch nutzen müssen." Dabei komme es auf Urteilskraft und Sensibilität an. Es gelte, aufmerksam zu bleiben, auch für das eigene Verhalten, und sich immer wieder zu fragen: Nutze ich, um etwas zu erreichen, in einem noch vertretbaren Maß meine Beziehungen – das viel beschworene "Vitamin B" –, oder setze ich bereits auf "Vitamin K" für Korruption?
Der Philosoph Heiner Hastedt, mit Brille, im dunklen Pullover, stützt das Kinn auf seine rechte Hand und schaut freundlich in die Kamera.
„Aus Egoisten wird man keine Altruisten machen“, sagt der Philosoph Heiner Hastedt.© Eduard Raab
Wo Korruption im Kleinen anfangen kann, das lotet Heiner Hastedt dementsprechend auch anhand von Selbstbeobachtungen und persönlichen Reflexionen aus. So sei ihm zum Beispiel aufgefallen, dass er vor dem Besuch in einer Facharztpraxis immer darauf achte, dass seine akademischen Titel mit in den Patientenunterlagen stehen. "Warum mache ich das eigentlich? Ist das nicht auch so eine Begünstigung des eigenen Falls, weil man auf eine bessere Behandlung hofft?"

Kant: "Der Mensch ist ein krummes Holz"

Neigen Menschen grundsätzlich zu Korruption? Hastedt kommt zu dieser Frage ein Ausspruch des Philosophen Immanuel Kant in den Sinn: "Der Mensch ist ein krummes Holz." Kants geistiges Umfeld, die Philosophie der Aufklärung, habe es "ein bisschen übertrieben damit, wie furchtbar weit der rationale Mensch es gebracht haben könnte."
Er betrachte den Menschen daher "als Mischwesen", sagt Hastedt: "In guten Stunden denken wir manchmal auf eine Art und Weise nach, die vielleicht auch unser Leben verändern kann." In diesem Sinne seien wir "nicht nur Opfer unserer Verhältnisse", nichtsdestotrotz hätten diese uns tief geprägt und beeinflusst. "Das muss man einbeziehen, wenn man einen Beitrag dazu leisten will, von Korruption wegzukommen."

Große Fische erwischen und das Spiel verändern

Dabei gehe es zunächst um eine realistische Einschätzung der menschlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten, so Hastedt: "Aus Egoisten wird man keine Altruisten machen." Stattdessen erscheine ihm das Konzept eines "aufgeklärten Egoismus" vielversprechend: "Nicht von Menschen zu verlangen, dass sie von ihren eigenen Interessen absehen, sondern ihre Interessen neu sehen lernen, unter Berücksichtigung der Interessen anderer."
Bloße moralische Appelle reichten dafür nicht aus, betont Hastedt. Die richtigen Gesetze allein könnten auch nichts ausrichten. Es komme darauf an, dass die Menschen neue Gewohnheiten ausbilden. Empörung über Korruption könne dafür ein Einstieg sein, aber dann sei eine starke Justiz gefragt, der es gelinge, "große Fische zu erwischen und sie möglichst mit Erfolg strafrechtlich zu verfolgen", sodass Korruption unattraktiv werde. Diese Strategie führe im besten Fall dazu, "dass die Spielregeln sich ändern."
Mit Blick auf die USA unterstreicht Hastedt, dass gegenseitige Korruptionsvorwürfe der verfeindeten Lager und eine Rhetorik der Empörung kein Stück weiter führen würden: "Damit können Sie die schon Überzeugten zum Engagement anstacheln, aber je empörter Sie sind, desto weniger werden Ihnen die Leute zuhören, die auf der anderen Seite stehen." Der Teil der Bevölkerung, der die Präsidentschaftswahl nun als verloren betrachte, werde aber ja nicht einfach verschwinden: "Die Aufgabe ist, ein Land zusammenzubringen. Das ist jenseits der Sonntagsrede nicht so einfach."
(fka)

Heiner Hastedt: "Macht der Korruption. Eine philosophische Spurensuche"
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2020
143 Seiten, 16,90 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

Nach Sturm auf das US-Kapitol: Warum Einigkeits-Floskeln nicht helfen
Nach dem Sturm auf das Kapitol ruft Joe Biden zur Einigung auf. Auch hierzulande blicken viele mit Sorge auf die wachsende Polarisierung und mahnen Versöhnung an. Was gut gemeint ist, birgt selbst Probleme, kommentiert Nils Markwardt.

Judith Butler: "Die Macht der Gewaltlosigkeit" - Warum Gleichheit Gewalt verbietet
Judith Butler, Philosophin und Ikone der Gender-Studies, erweitert ihre politische Philosophie um ein theoretisches Plädoyer für Gewaltlosigkeit. Dem inspirierenden Ansatz fehlt es jedoch an Schlussfolgerungen für die gelebte Gegenwart, urteilt Katharina Döbler.

Mehr zum Thema