Julian Nida-Rümelin: Die gefährdete Rationalität der Demokratie. Ein politischer Traktat
Edition Körber, Hamburg 2020
304 Seiten, 22 Euro
"Klassenkampf-Parolen gefährden die Demokratie"
34:24 Minuten
Extremismus zerstöre das Fundament der Demokratie, warnt Julian Nida-Rümelin. Das gelte für rechte wie linke Populisten. In Krisenzeiten sollten wir nicht heftiger streiten, sondern den Konsens über Grundwerte stärken, so der Philosoph.
Terror, politischer Extremismus und globale Konflikte bringen liberale Demokratien weltweit in Bedrängnis. Drei Meldungen aus den vergangenen Wochen, die in der aktuellen Corona-Krise schon fast wieder in den Hintergrund getreten sind: An der türkisch-griechischen Grenze verlangen Zehntausende Flüchtlinge Einlass in die Europäische Union, die griechische Polizei setzt Tränengas und Wasserwerfer ein, um sie zurückzuhalten.
Im hessischen Hanau erschießt ein Mann neun Menschen aus rassistischen Motiven und tötet anschließend seine Mutter und sich selbst. In Thüringen wählt die rechtsextreme AfD zusammen mit CDU und FDP den Liberalen Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten und löst damit einen bundesweiten Skandal aus.
Versagen der Politik treibt Wähler an die Ränder
Drei Ereignisse, die Grundwerte demokratischer Gesellschaften in Frage stellen und auf beunruhigende Weise ihre Verwundbarkeit vor Augen führen. Julian Nida-Rümelin beobachtet, dass westliche Demokratien derzeit einer ganzen Reihe von Bedrohungen ausgesetzt seien, die ihr normatives Fundament ins Wanken bringen. Eine Gefahr liege darin, dass globale Krisen und Konflikte die Kompetenzen einzelner Staaten schnell überschritten. Für viele Menschen sei es zutiefst beunruhigend, dass die Politik an deren Lösung scheitere:
"Die Unfähigkeit der Europäischen Union, eine vernünftige Migrationspolitik zu konzipieren, ist ein solches Versagen, die Eurokrise war ein solches Versagen, Klimawandel ist ein Beispiel für ein solches Versagen. Dann ist klar, dass die Bevölkerung den Eindruck hat: Die können's nicht! Und dann entstehen vagabundierende Protestwählerschaften, die das ganze System am Ende destabilisieren."
Schwindendes Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik treibe immer mehr Menschen populistischen Bewegungen in die Arme, so Nida-Rümelin. Dabei stehe weit mehr auf dem Spiel als das Schicksal der über viele Jahre tonangebenden Volksparteien. Das Beispiel der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen habe deutlich gezeigt, dass zu einer funktionierenden Demokratie mehr gehöre als die formale Einhaltung von Spielregeln.
Wahl in Thüringen: legal aber nicht legitim
"Die Demokratie beruht auf Normen und Werten, und nicht alles, was legal ist, ist deswegen auch legitim", betont Julian Nida-Rümelin. Formal betrachtet sei die Wahl von Thomas Kemmerich mit den Stimmen von FDP, CDU und AfD "völlig korrekt zustande gekommen". Doch gerade in Thüringen, "wo zweifellos derjenige Flügel der AfD dominiert, der jenseits des demokratischen Spektrums steht", sei eine Zusammenarbeit der CDU und der FDP mit der AfD nicht zu rechtfertigen.
"Demokratie beruht auf einer Kultur des zivilen Umgangs miteinander", erklärt Nida-Rümelin. Er spricht von einer "humanistischen Leitkultur", die vor jedem Streit über politische Interessen ein Fundament gemeinsamer Werte und Handlungsmaximen bilde:
"Ich respektiere die andere Person als Bürgerin und Bürger. Wir reden miteinander. Wir versuchen, die Differenzen öffentlich zu klären. Wir führen Gründe an. Wir beschimpfen andere nicht, weil sie anderer Meinung sind. Und in der Tat, das erodiert gegenwärtig massiv."
Durchwursteln ersetzt klare politische Haltung
Selbst in sehr stabilen alten Demokratien wie den USA und Großbritannien sei diese "Zivilkultur" inzwischen beschädigt, meint Nida-Rümelin: "Ein Warnsignal!" Mit Blick auf die deutsche Situation bemerkt er, die programmatischen Grundlagen politischen Handelns seien "im Zeichen eines pragmatischen Durchwurstelns" seit Jahren hintangestellt worden:
"Bei allen Verdiensten, die die Bundeskanzlerin hat, haben wir jetzt eine lange Phase in ihrer Regierungszeit gehabt, in der das Argument, dass öffentliche Begründen, die Überlegung, wie die Dinge zusammenstimmen müssen, kaum noch eine Rolle gespielt hat. Und das fällt uns jetzt auf die Füße."
Julian Nida-Rümelin, seinerzeit Kulturstaatsminister im Kabinett Gerhard Schröders, plädiert für profiliertere politische Debatten. Andererseits erteilt er jeglicher Freund-Feind-Rhetorik eine Absage, wenn er befürchtet, sie könnte den demokratischen Konsens untergraben. "Damit wir uns überhaupt streiten können, müssen wir erst mal über alles Mögliche einig sein", so Nida-Rümelin. "Damit wir einen Dissens haben können, brauchen wir einen umfassenden Konsens."
Freund oder Feind? Das sind doch populistische Kategorien
Linke "Klassenkampf-Parolen" hält Julian Nida-Rümelin daher für ebenso undemokratisch wie "Rassismus, Nationalismus und Chauvinismus". Demokratie bedürfe "des wechselseitigen Respekts, der Anerkennung von Grundnormen, der gleichen menschlichen Würde", unterstreicht er:
"Diese Anerkennung ist mit einem Freund-Feind-Verhältnis nicht kompatibel. Das gilt rechts im politischen Spektrum, und das gilt auch links im politischen Spektrum. Diejenigen, die zur Klassenkampf-Rhetorik zurück wollen, gefährden die normativen Grundlagen der Demokratie genauso wie diejenigen, die von einer völkischen Identität faseln."
(fka)
Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
Philosophische Flaschenpost: Erich Fromm und die Postwachstumsgesellschaft
Dass wirtschaftliches Wachstum der sichere Weg zum Glück ist, wird spätestens seit der Klimakrise immer fraglicher. Erich Fromm bemerkte schon Mitte des letzten Jahrhunderts, dass eine Gesellschaft mehr brauche als nur ökonomische Ziele. Thomas Kühn öffnet Fromms philosophische Flaschenpost.