Daniel-Pascal Zorn: "Das Geheimnis der Gewalt. Warum wir ihr nicht entkommen und was wir trotzdem dagegen tun können"
Klett-Cotta, Stuttgart 2019
198 Seiten, 20 Euro
Verborgene Gewalt - und was wir dagegen tun können
37:23 Minuten
Gewalt ist nicht immer so eindeutig wie ein Schlag ins Gesicht. Sie wirke oft im Verborgenen, sagt der Philosoph Daniel-Pascal Zorn: zwischen Eltern und Kindern, zwischen Freunden oder Lebenspartnern - gerade dort, wo wir sie nicht unbedingt erwarten.
Die Leiche im Krimi, das Attentat in den Nachrichten, die Verfolgungsjagd im Kino: Bilder der Gewalt sind überall, aber was sie zeigen, ist in der Regel weit entfernt von unserem Alltag. Gleichzeitig seien wir ständig in subtilere Formen von Gewalt verstrickt, meist ohne uns dessen bewusst sein, sagt der Philosoph Daniel-Pascal Zorn im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur:
"Es gibt eine seltsame Spannung zwischen der Gewalt, die wir tatsächlich erleben und ausüben, und der Gewalt, über die wir öffentlich sprechen."
In Beziehungen ist Gewalt schwer greifbar
In körperlichen Angriffen und Übergriffen trete Gewalt klar zutage, dagegen wirke sie im täglichen Miteinander, in privater und öffentlicher Kommunikation oft verdeckt und sei schwer greifbar. Wie solche diffusen Mechanismen funktionieren, zeigt Zorn in seinem Buch "Das Geheimnis der Gewalt".
Schon in persönlichen Beziehungen sei es oft eine Frage der Perspektive, wer wem Gewalt antue, sagt Daniel-Pascal Zorn - sei es durch mangelnde Aufmerksamkeit, Bevormundung oder ständigen Erwartungsdruck. Oft zeige ein genauerer Blick, dass unser erstes Urteil über eine Situation wesentliche Aspekte außer Acht ließ.
Solchen "Kippbildern" der Gewalt geht Zorn in seinem Buch anhand zahlreicher Beispiele auf den Grund, indem er über den ersten Blick hinausgeht und versucht, möglichst viele Ebenen und Perspektiven einzubinden. Auch das Schreiben über Gewalt könne selbst gewaltsam sein, wenn man dabei vorschnell eine einzige Perspektive gelten lasse. Als Autor erprobt Zorn verschiedene Möglichkeiten, um diese Gewaltsamkeit des Schreibens zu minimieren.
Kein Patentrezept für fairen Streit
Auch im öffentlichen Streit sollten wir uns nicht mit vorschnellen Urteilen zufrieden geben, warnt Zorn: "Man muss in der Situation genau hinsehen: Handelt es sich um jemanden, der ganz offensichtlich provozieren will? Oder handelt es sich um jemanden, der selber ratlos ist und aus dieser Ratlosigkeit heraus sich verteidigt?"
In unklaren Lagen dieser Art lasse sich nur von Fall zu Fall entscheiden: "Wie kann ich, anstatt dem anderen einfach einen Gewaltvorwurf hinzulegen, mit der Situation so umgehen, dass beide sie so wenig wie möglich als gewalttätig empfinden? Das ist eine Aufgabe, der wir uns nur stellen können. Dafür gibt es keine Patentrezepte."
Fatale Logik des "Alles oder Nichts"
Überhaupt hält Daniel-Pascal Zorn im Umgang mit Gewalt nicht viel von reiner Lehre: "Über Gewalt denken wir ganz häufig im Modus von Alles oder Nichts nach: entweder absolute Gewaltlosigkeit als moralisches Ideal, oder Gewalt als Ursprung der Gesellschaft, und dann muss man die eben akzeptieren."
Beide Sichtweisen führen nach Zorns Auffassung nicht weit. Mit der Annahme, Gewalt sei ein Teil der menschlichen Natur und daher unvermeidlich, würden wir es uns allzu einfach machen: "Man kann dann einfach fatalistisch sagen: So ist der Mensch. Und dann hat man auch keine Auseinandersetzung mehr damit."
Gewaltlosigkeit als gewalttätige Perspektive
Auf der anderen Seite könne auch die Forderung nach Gewaltlosigkeit gewaltsame Züge annehmen, so Zorn. "Denn sie nimmt ja in Anspruch, die Kriterien zu kennen, nach denen etwas gewalttätig ist und eben nicht, und das dann zu beurteilen und möglicherweise diejenigen, die das nicht einsehen wollen, dann sozusagen zu ihrem Glück zu zwingen."
Daniel-Pascal Zorn hält der Logik des "Alles oder Nichts" deshalb ein Abwägen entgegen, das an jeder konkreten Situation neu ansetzen müsse:
"Ich würde dafür plädieren, mit Gewalt im Sinne eines ‚Mehr oder Weniger‘ in Kombination mit einem ethischen Imperativ umzugehen. Das heißt: Wir versuchen, so wenig wie möglich Gewalt auszuüben in unseren Handlungen und offen dafür zu sein, wenn uns jemand sagt: ‚Das war gewalttätig‘, gleichzeitig aber auch kritisch zu sein, wenn jemand sagt: ‚Das ist gewalttätig‘ - und dafür eigentlich gar keine Belege hat."
Am Pranger ohne Prüfung
Denn in der reizbaren Öffentlichkeit unserer Gegenwart könne schon der Vorwurf der Gewalt in einen gewaltsamen Akt umschlagen, noch bevor sich herausstellt, ob die Anschuldigung berechtigt ist. Zorn nennt ein Beispiel:
"Jemand wird der sexuellen Belästigung beschuldigt, und das bedeutet in den Augen der Öffentlichkeit sehr schnell, dass die Beschuldigung selber schon die Verurteilung ist. Dann haben Sie den Effekt, dass die Öffentlichkeit zum Richter wird und derjenige, selbst, wenn er gar nichts getan hat, sein ganzes Leben lang als Täter mit einer Tat leben muss, die er gar nicht vollzogen hat."
Anders verhalte es sich selbstverständlich mit Fällen, wo die Sachlage – etwa durch eine gerichtliche Untersuchung – eindeutig geklärt sei.
Zweifel am allzu schnellen Urteil
"Gewalt ist uns näher, als wir es oft wahrhaben wollen", schreibt Daniel-Pascal Zorn. Aber sie vollziehe sich nicht schicksalhaft. "Wir können immer auch nicht gewalttätig handeln", sagt er. Vorausgesetzt, wir schätzen die Situation rechtzeitig so ein, dass wir einen Spielraum für Entscheidungen erkennen.
Zorn empfiehlt deshalb mehr Aufmerksamkeit für Formen versteckter Gewalt, die wir als solche oft nicht erkennen. Gerade in Fällen, wo die Lage komplexer sei und sich bei näherem Hinsehen nicht eindeutig entscheiden lasse, wer Gewalt ausübt und wer sie erfährt, sei Zweifel angebracht:
"Nicht Zweifel, der alles zersetzt, sondern Zweifel am allerersten Urteil, an der allzu klaren Einteilung - Zweifel am ‚Alles oder Nichts‘."
(fka)
Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
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