Moral, Pflicht, Gesetz und das höhere Gut
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Die "Sea-Watch 3"-Kapitänin ist in Italien inhaftiert worden, weil sie gesetzeswidrig mit ihrem Flüchtlingsschiff auf Lampedusa anlegte. Der Philosoph Stefan Gosepath hält das Vorgehen von Carola Rackete für gerechtfertigt. Der eigentliche Skandal sei Europas Unvermögen.
Stephan Karkowsky: Ein Hafendrama spielte sich am Wochenende in Lampedusa ab. Die deutsche Kapitänin der "Sea-Watch 3" sah ihre moralische Pflicht darin, die aufgenommenen Flüchtlinge in Italien an Land zu bringen. Bei der Einfahrt in den Hafen touchierte sie ein Schiff der italienischen Marine. Italiens Innenminister Salvini ließ sie daraufhin festnehmen als, wie er sagte, "gesetzeslose Piratin". Kapitänin Carola Rackete hat womöglich gegen Gesetze verstoßen, als sie die Sea-Watch gegen den Willen der Italiener in den Hafen steuerte. Kein Problem sieht darin der TV-Moderator Jan Böhmermann. Er startete mit seinem Kollegen Klaas Heufer-Umlauf auf YouTube eine Solidaritätsaktion mit Spendenaufruf, denn:
Klaas Heufer-Umlauf: Wir sind der Überzeugung, wer Menschenleben rettet, ist kein Verbrecher, der kann kein Verbrecher sein. Wer sein Leben einsetzt, um das Leben anderer zu retten, wird niemals ein Verbrecher sein, nirgendwo auf der Welt und schon gar nicht in einem freundlichen, freien, demokratischen und den Menschen zugewandten Europa. Wer das Gegenteil behauptet, hat nicht recht, der hat einfach nicht recht.
Karkowsky: Wir fragen, stimmt das eigentlich, wer Leben rettet, kann kein Verbrecher sein, unter keinen Umständen. Antworten lassen wir den Philosophen Professor Stefan Gosepath von der FU Berlin. Was sagen Sie? Darf man Gesetze ignorieren, um Menschenleben zu retten?
Der Schutz des höheren Gutes
Gosepath: Ja, das darf man natürlich. Denken Sie an das Beispiel, dass ich jemand nur retten kann, indem ich über ein fremdes Grundstück laufe, in ein Haus einbreche oder irgendwie so etwas. Das Gut des Menschenlebens ist so viel höher als zum Beispiel die Gesetze des Eigentums, dass ich diese Gesetze brechen darf, um das höhere Gut zu schützen.
Karkowsky: Aber "kann kein Verbrecher sein" – in den Augen des Gesetzes ist man dann ja trotzdem ein Verbrecher, wenn man zum Beispiel das Gut des Eigentums in Ihrem Beispiel verletzt hat.
Gosepath: Ja. Da gibt es jetzt zwei Möglichkeiten. Viele rechtstaatliche Gesetze sehen vor, dass man solche Ausnahmen macht. Also zum Beispiel Mundraub ist so ein Beispiel in Deutschland. Da darf man Sachen stehlen – in Anführungszeichen –, wenn man Leute damit ernähren kann, die in Not sind. Das ist also in manchem Gesetz, also Ländern vorgesehen, in manchen nicht.
Im Extremfall wäre das ziviler Ungehorsam. Man bricht absichtlich ein Gesetz, um erstens ein höheres Gut zu schützen und auch einen symbolischen Akt zu machen. Ich denke, das ist hier auch bei dem Aufruf auch ein wichtiger Punkt, einfach die Leute wachzurütteln, was für ein moralisches Unrecht hier eigentlich passiert und was wir schützen müssten.
Anfahrt von libyschen Häfen hätte Menschen gefährdet
Karkowsky: Nach allem, was wir wissen, hat die "Sea-Watch" die Flüchtlinge vor der libyschen Küste an Bord genommen. Auf tagesschau.de fragt einer, wenn es so dringend war, die an Land zu bringen, warum hat Frau Rackete dann nicht den nächsten Hafen angelaufen, den in Libyen. Was sagen Sie?
Gosepath: Ja, genau, Libyen hat sich auch bereit erklärt, die Flüchtlinge zurückzunehmen. Das macht das Problem jetzt wirklich zu einem größeren Problem. Es ist ja nicht so, dass die Not so groß war, dass sie irgendeinen Hafen anfahren musste, sondern sie hätte libysche Häfen anfahren können. Andererseits sind die Flüchtlinge aus Libyen geflohen, weil dort Bürgerkrieg herrscht und sie dort in Unsicherheit sind.
Das ist auch die Einschätzung, die die Europäische Union selber hat, also insofern teilen wir ihre Einschätzung, und insofern konnte sie sie da nicht hin zurückbringen. Sie konnte da zwar an Land gehen, aber die Menschen wären dort gefährdet gewesen und nicht in Sicherheit. In Sicherheit wären sie oder sind sie eben nur an europäischen Häfen.
Karkowsky: Nun gab es ja vorher bereits einen Eilantrag der "Sea-Watch"-Kapitänin und ihrer Gäste beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der befand ganz eindeutig, die "Sea-Watch 3" darf in Italien nicht anlegen, weil dort keine Menschenrechte verletzt werden. Hat Frau Rackete damit nicht auch ihr moralisches Recht verloren, es trotzdem zu tun?
Der eigentliche Skandal ist Europas Unvermögen
Gosepath: Das müsste man jetzt noch mal genauer angucken, wie jetzt auch die weitere gerichtliche Beurteilung geht. Die Situation sehe ich so wie, glaube ich, viele andere hier auch. Also es herrscht eine objektive Notsituation, nach Libyen konnte sie nicht zurück, die Menschen konnten nicht auf Dauer auf dem Schiff bleiben, sie mussten von dem Schiff runter. Sichere Häfen sind nur in Europa, irgendein Hafen in Europa hätte es getan. Keiner wollte sie aber. Insofern hätte sie irgendeinen von den Häfen nehmen müssen, die sich ursprünglich geweigert haben.
Natürlich ist der eigentliche Skandal der, dass die europäischen Länder sich nicht auf einen Verteilschlüssel haben einigen können, sodass sie Italien oder Griechenland oder Spanien, was ja die Anlaufhäfen hätten sein können, vorher schon hätten zusichern können, dass sie die Flüchtlinge nehmen, sodass die Länder, die ja objektiv auch überlastet sind mit der Flüchtlingsaufnahme, hätten sagen können, als Transitland fungieren wir gerne, wir lassen die in Italien landen und schicken sie dann gleich weiter zu anderen Ländern.
Eine symbolische Aktion
Karkowsky: Auch objektive Notsituation, da kann man drüber streiten. Die "Sea-Watch" war nicht in Seenot, die Italiener hatten sie mit Wasser und Proviant versorgt, außerdem die kranken und gefährdeten 13 von 53 Flüchtlingen von Bord geholt, die waren also schon gar nicht mehr da, und mehrere EU-Staaten hatten sich zur Aufnahme der Flüchtlinge immerhin bereit erklärt. Da wurde noch ein bisschen verhandelt. Spätestens hier fragt sich mancher, warum jetzt diese Eskalation?
Gosepath: Richtig. Das, glaube ich, ist eher ein symbolischer Akt. Ich meine, es sah nicht so aus, als ob übermorgen sich genug Länder finden, um alle Flüchtlinge zu nehmen, und sie hätte dann ja auch gegebenenfalls immer noch einen anderen Hafen anfahren müssen, in Frankreich oder in Deutschland, da hätte sie weit rumfahren müssen. Sie haben, soweit ich die Nachrichten kenne, auch recht, also die Leute waren jetzt auf dem Schiff nicht in akuter Lebensnot. Andererseits war klar, das ist keine langfristige Lösung. Es sah nicht so aus kurzfristig, als ob irgendeiner der Anrainerstaaten im Mittelmeer bereit gewesen wäre, sie landen zu lassen.
Insofern, glaube ich, gab es eine Notsituation. Sie musste irgendwie landen, sie musste die Leute vom Schiff kriegen. Sie selber behauptet ja, die Flüchtlinge seien verzweifelt gewesen. Das kann ich jetzt von hier aus natürlich nicht überprüfen. Aber der andere Punkt ist natürlich, dass sie damit eine symbolische Aktion macht, und ich glaube, das wollte sie auch. Das war ein Akt von zivilem Ungehorsam, sie wollte jetzt auch gerade in dem Gesetzesbruch des italienischen Gesetzes – was ich jetzt moralisch nicht für richtig halte, aber es ist trotzdem das Gesetz –, in dem Bruch dieses Gesetzes demonstrieren, dass wir in Europa irgendwie moralisch falsch mit dieser Situation der Flüchtlinge im Mittelmeer umgehen.
Wohlfeile Kritik aus Deutschland
Karkowsky: Und vermutlich haben Sie recht mit der Einschätzung, dass viele unserer Hörer diese Einschätzung teilen und sagen, also was sie gemacht hat, die Kapitänin, war richtig. Das belegt allein schon der große Zuspruch für die Spendenaktion.
Gosepath: Ja.
Karkowsky: Bis zu 700.000 Euro sind bis heute eingegangen allein für diese Böhmermann-Aktion, aber selbst wenn die moralische Überzeugung richtig ist, würde man damit in Italien einen Prozess gewinnen können?
Gosepath: Das kann ich nicht so richtig beurteilen. Man sollte vielleicht, dieses moralische Gefühl, da sollten wir, glaube ich, einen selbstreflexiven kritischen Schritt machen. Das ist natürlich für uns auch etwas einfach, das Gefühl zu haben. Wir sitzen im reichen Deutschland, wir haben zwar Flüchtlinge aufgenommen, auch mehr als andere europäische Länder, aber uns ist es nicht gelungen, also auch unter der Führung der Bundeskanzlerin, einen europäischen Konsens über die Verteilung der Flüchtlinge zu erreichen. Das wäre Teil des Deals gewesen.
Solange wir das nicht geschafft haben, ist es natürlich immer sozusagen wohlfeil, zu sagen, aus dem reichen Land, ihr anderen Länder müsst doch aufnehmen, macht doch mehr. Wir zeigen mit dem Finger immer auf andere. Wenn wir jetzt gesagt hätten, wir nehmen die gesamte Bootsbesatzung, der Flüchtlinge meine ich jetzt, dann wäre ja gut gewesen. Aber das hat die Bundesrepublik Deutschland auch nicht gesagt. Sie hat gesagt, sie nimmt ihren fairen Teil – immerhin, das hat sie gesagt. Aber wenn wir alle genommen hätten, wäre ja auch gut gewesen.
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